von Heike Langenberg und Henrik Müller

Nach den Plänen der Bundesregierung soll von 2015 an in Deutschland ein allgemeiner, gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gelten. Doch die Tinte unter dem Koalitionsvertrag war noch nicht trocken, da wurden schon Forderungen von Politiker/innen und Arbeitgeberverbänden nach Ausnahmen laut. Jüngstes Beispiel: Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen im Bundestag, Brigitte Pothmer, möchte Männern und Frauen unter 25 Jahren den Mindestlohn vorenthalten. Ihre Begründung: Sie will einen Anreiz dafür schaffen, dass jüngere Menschen erst eine Ausbildung machen und nicht gleich anfangen zu jobben. Dabei verweist sie auf andere europäische Länder, deren Mindestlohnregelungen diese Ausnahme zuließen.

Ausgerechnet die Grüne Brigitte Pothmer, war sie es doch, die beim wissenschaftlichen Dienst des Bundestags ein Gutachten in Auftrag gegeben hatte: Dessen Autor meldet unter der Überschrift "Ausnahmen von einem gesetzlichen Mindestlohn für einzelne Arbeitnehmergruppen aus verfassungsrechtlicher Sicht" erhebliche juristische Zweifel an, dass - von Auszubildenden und im Rahmen ihrer Ausbildung beschäftigten Praktikantinnen abgesehen - eine Ausgrenzung bestimmter Gruppen von Menschen verfassungsrechtlich zulässig sein könnte.

Wichtigster Grund: der Artikel 3 des Grundgesetzes. Er lautet: "Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich." Folglich sei dem Staat, so der Autor des Gutachtens, ein "gleichheitswidriger Ausschluss eines Personenkreises von einer Vergünstigung, die einem anderen Personenkreis gewährt wird", grundsätzlich verboten. Das Bundesverfassungsgericht habe aus dem Artikel 3 das Verbot abgeleitet, "wesentlich Gleiches ungleich oder wesentlich Ungleiches gleich zu behandeln", wenn, ja, wenn nicht ein Rechtfertigungsgrund dafür gegeben sei.

Das Wort "grundsätzlich" bedeutet für Juristen nämlich: Ausnahmen sind möglich. Also folgert das Bundestags-Gutachten: "Soweit Jugendliche und jüngere Arbeitnehmer von einem Mindestlohn ausgenommen werden sollen, kommen trotz des grundsätzlichen Verbots der Diskriminierung aufgrund des Alters (...) auch berufsbildungspolitische Überlegungen in Betracht." Zum Beispiel, wie die Grüne Pothmer nun fordert: falsche Anreize vermeiden, Jugendliche nicht verleiten, auf eine Berufsausbildung zu verzichten und so weiter.

Horst Seehofers Lebenswirklichkeit

Aber die Wunschliste nach Ausnahmen ist noch länger. Insbesondere Schüler/innen, Studierende, Rentner/innen, Minijobber/innen und hinzuverdienende Arbeitslose sollen keinen Anspruch auf die 8,50 Euro pro Stunde haben. Eine Begründung wird von denen, die das fordern, nicht geliefert. Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer spricht nur davon, man müsse Gesetze machen, "die auf die Lebenswirklichkeit passen". Sollten diese Ausnahmen Wirklichkeit werden, würde das Mindestlohngesetz sozusagen Schweizer Käse. Zu diesem Schluss kommt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Gut fünf Millionen Beschäftigte in Deutschland erhalten zurzeit weniger als 8,50 Euro Stundenlohn. Würde die Bundesregierung den Forderungen nach Ausnahmen vom Mindestlohn nachgeben, erhielten zwei Millionen von ihnen keinen Mindestlohn - und es könnte zu problematischen Verdrängungseffekten auf dem Arbeitsmarkt kommen. Die Ausgrenzung ganzer Beschäftigtengruppen würde den eigentlichen Zweck der Regelung unterlaufen, nämlich den Schutz aller abhängig Beschäftigten, warnt der Leiter des WSI, Reinhard Bispinck. Er sieht die Gefahr, dass durch diese möglichen Abweichungen ein neuer Niedriglohnsektor entsteht.

Die Ausnahmen würden sich der WSI-Studie zufolge stark auf einige wenige Branchen konzentrieren: Knapp 56 Prozent aller Minijobber und 52 Prozent aller erwerbstätigen Rentner/innen, Schüler/innen und Studierenden mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro arbeiten entweder im Gastgewerbe und im Einzelhandel oder erbringen unternehmensnahe oder "sonstige Dienstleistungen", beispielsweise in Wäschereien oder im Friseurgewerbe. Mittlerweile verlangen auch die Zeitungsverleger Ausnahmen für die Zusteller/innen (siehe Text auf dieser Seite).