Ausgabe 02/2014
Millionen ohne Gesundheitsschutz
250 ehemals staatliche Polikliniken wurden geschlossen oder privatisiert. Viele Ärzte und Pflegekräfte protestieren dagegen - nicht nur, weil ihnen Arbeitslosigkeit droht
Sie hoffen noch auf medizinische Behandlung
von Heike Schrader
Über 20 Jahre hat Grigoris H. in die Krankenkasse für Selbstständige eingezahlt. Doch mit der Krise sind die Aufträge für den Schiffsbauer vollständig eingebrochen. Deswegen schuldet er der Kasse die Beiträge für die letzten zwei Jahre. Nun ist Grigoris zuckerkrank, doch das Insulin zahlt ihm die Kasse wegen der Schulden nicht mehr. Ohne das auf Spenden und unbezahlte Arbeit von Ärzten und Pflegepersonal gestützte selbstverwaltete Krankenhaus "Metropolitan Community Clinic at Helliniko" im Süden Athens wäre der breitschultrige Endfünfziger vielleicht schon tot.
Wie viele andere, die aus dem sozialen Netz Griechenlands herausgefallen sind, bekommt er seine Medikamente kostenlos von einem der mittlerweile recht zahlreichen Solidaritätsprojekte, die die elementarsten Bedürfnisse von Menschen in Griechenland befriedigen. Leistungen, von denen man annimmt, dass sie im 21. Jahrhundert zu den selbstverständlichen eines jeden demokratischen Staates gehören müssten.
Fast ein Viertel der Bevölkerung Griechenlands, also etwa drei Millionen Menschen, haben mit der Krise ihre Sozialversicherung verloren. Entweder weil sie wie Grigoris der Kasse die Beiträge schulden oder weil sie nach mehr als zwölf Monaten Arbeitslosigkeit automatisch aus der Kasse ausgeschlossen wurden. Längst nicht alle können von den selbstverwalteten Solidaritätskliniken versorgt werden, ganz abgesehen davon, dass diese Häuser nur eingeschränkt medizinische Leistungen erbringen und Krankenhäuser keinesfalls ersetzen können.
Säuglingssterblichkeit steigt, Depressionen nehmen zu
Doch statt in die von ihm selbst geschlagene Bresche zu springen, reißt der Staat weiter Löcher in sein soziales Netz. Auf Beschluss des Gesundheitsministeriums wurden Mitte Februar landesweit alle etwa 250 staatlichen Polikliniken der Einheitskrankenkasse EOPYY geschlossen. Damit werden etwa 8000 Ärzt/innen, Pflegekräfte und sonstige Mitarbeiter/innen zumindest vorläufig arbeitslos. Ein Teil von ihnen soll in die völlig unterbesetzten staatlichen Krankenhäuser übernommen werden, die restlichen dürfen ihr Glück bei den privaten Betreibern von Polikliniken und Diagnosezentren versuchen. Von denen sollen in Zukunft auch die mehr als neun Millionen bei der EOPYY Versicherten ihre Leistungen beziehen.
Ob eine auf Gewinn orientierte private Firma preiswerter und besser arbeitet als eine Einrichtung der öffentlichen Hand, das darf bezweifelt werden. Und die Patienten werden mit Sicherheit mehr belastet als in der Vergangenheit. Denn zusätzlich zu der bereits geltenden 1-Euro-Gebühr pro Rezept mit maximal drei Medikamenten soll in einigen Monaten für jeden Besuch der neuen Polikliniken ein Eigenanteil von fünf Euro erhoben werden. Mit diesen Einnahmen sollen nach Angaben von Gesundheitsminister Adonis Georgiadis dann auch Nichtversicherte in den Kliniken behandelt werden, etwas, das bisher offiziell nicht möglich war. "Unter der Hand" jedoch wurde ihnen von den beim Staat beschäftigten Ärzten auch bisher schon die Grundversorgung in den Polikliniken gewährt.
Viele der durch die brutale Sparpolitik Verarmten aber können sich nicht einmal die Praxis- und Rezeptgebühr leisten. Vor allem für chronisch Kranke und ältere Menschen summieren sich die bescheiden aussehenden Beträge schnell zu untragbaren monatlichen Belastungen. Die Folgen der Einsparungen im Gesundheitswesen sind ohnehin schon drastisch: Einer Studie der britischen Universitäten Cambridge, Oxford und London zufolge haben seit Beginn der Krise im Jahr 2008 bis 2013 Totgeburten, Säuglingssterblichkeit, HIV-Neuinfektionen und psychische Erkrankungen sprunghaft zugenommen. So stieg die Säuglingssterblichkeit von 2008 bis 2010 um 43 Prozent, gleichzeitig wurden 19 Prozent mehr Kinder mit Untergewicht geboren. Fast ein Drittel der nicht altersbedingten Todesfälle wurden von der Krise verursacht. Das sind vor allem Selbstmorde, deren Rate zwischen 2007 und 2011 um 45 Prozent gestiegen ist. Der Leiter der Studie, der Soziologe Alexander Kentikelenis, erklärte, das griechische Sozialsystem versage damit genau in dem Moment, in dem die Menschen es ganz besonders brauchten.
Kliniken wurden besetzt
Besonders die Ärzt/innen und Pflegekräfte setzen dieser Zerschlagung des Sozialstaats Widerstand entgegen. Schon seit November 2013 traten überall im Land die bei der EOPYY arbeitenden Ärzte gegen die geplanten Schließungen in den Streik, der bis zur Schließung der Polikliniken im Februar aufrechterhalten wurde. Vielerorts widersetzen sich die Beschäftigten den Schließungen auch weiterhin, so an der Poliklinik des Viertels Ag. Dimitriou-Dafni im Süden Athens. Hier halten die entlassenen Ärzte und Pflegekräfte das Klinikgebäude besetzt und behandeln weiter täglich ihre Patienten - kostenlos.