Auch 35 Jahre nach der ersten Wahl eines gemeinsamen Parlaments scheint eine deutliche Mehrheit der inzwischen 400 Millionen EU-Bürger/innen keineswegs davon überzeugt zu sein, dass ihre Interessen von den Abgeordneten in Straßburg und Brüssel angemessen vertreten werden. Wenn europaweit 225 Millionen Menschen - das sind 57 Prozent der Wahlberechtigten - den Urnengang verweigern, kommen Zweifel auf an Wirksamkeit und Funktionieren der gegebenen Form einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie.

Einen neuen Negativrekord haben laut Tageszeitung Die Welt bei der Europa-Wahl 2014 mit 87 Prozent die Nichtwählenden in der Slowakei aufgestellt, gefolgt von ihren tschechischen Nachbarn mit 80,5 Prozent, Slowenien (79 Prozent) und Polen (77,3 Prozent). Am anderen Ende der Skala war die Wahlbeteiligung am stärksten in Italien mit 60 Prozent und Griechenland (58,2 Prozent), wenn man absieht von den jeweils 90 Prozent in Belgien und Luxemburg, wo Wahlpflicht herrscht.

Dass die Wahlbeteiligung in den 28 EU-Staaten auf ihrem niedrigen Niveau verharrt, scheint für die gesellschaftspolitische Entwicklung der nächsten Jahre genau so bedrohlich wie das Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien. Je weniger Wähler/innen hinter der europäischen Idee stehen, desto leichter kann sich die marktradikal und neoliberal geprägte EU-Administration in Brüssel über die Interessen der meisten Bürgerinnen und Bürger zwischen Lissabon und dem östlichen Landende von Zypern, von Malta bis fast zum Nordkap hinwegsetzen.

Dass in den Führungsetagen der beteiligten politischen Kräfte vor diesem Hintergrund wenigstens ein wenig Nachdenklichkeit eingekehrt wäre, ist nicht zu beobachten. Im Gegenteil: Während in Brüssel die - bisher sieben - Parlamentsfraktionen erst einmal versuchten, sich neu zu sortieren, steckten die Spitzen der bundesdeutschen Regierungskoalition gleich nach der Wahl vom 25. Mai umstandslos die Köpfe zusammen, um die Verteilung der in Europa zu besetzenden Posten zu beeinflussen. Dass in deutschen Landen die Beteiligung am Urnengang für Europa zwar von 43,3 Prozent um 4,7 Punkte auf 48 Prozent gestiegen ist, aber dennoch problematisch niedrig geblieben ist, stört in Berlin offenbar niemanden.

Henrik Müller


Zuordnung neuer parlamentarischer Gruppen

Die Darstellung von Wahlergebnissen und Wahlbeteiligung weist wenige Tage nach dem Urnengang noch ein paar Ungenauigkeiten auf. Insbesondere die Zuordnung neu im Parlament vertretener Gruppierungen (wie etwa der deutschen AfD) war zu diesem Zeitpunkt noch im Fluss. Die dargestellte Aufteilung beruht auf Einschätzungen des Meinungsforschungsinstituts "infratest Dimap".


Die realen Stimmenanteile der Parteien bei der Europa-Wahl in Prozent

EVP: Europäische Volkspartei / Christdemokraten

S&D: Progressive Allianz der Sozialisten und Demokraten

ALDE: Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa

Grüne/EFA: Grüne / Europäische Freie Allianz

GUE-NGL: Vereinigte Euroäische Linke - Nordische Grüne Linke

ECR: Europäische Konservative und Reformisten

EFD: Fraktion "Europa der Freiheit und der Demokratie" (Rechtspopulisten)