LUCAS ZEISE lebt und arbeitet als freier Journalist in Frankfurt am Main

Angela Merkel macht zwar die falsche Politik. Sie ist aber eine kluge Politikerin und gibt deshalb offen zu, dass die Euro-Krise noch nicht ausgestanden ist. Das klingt vernünftig und hat den Vorzug, wahr zu sein. Meist aber schiebt die Kanzlerin dem Eingeständnis, dass Krise herrscht, Sätze nach wie: Die hoch verschuldeten Staaten Europas müssten ihre Finanzen noch besser in Ordnung bringen, oder auch, Deutschland sei - dank ihrer klugen Politik - gut durch die Krise gekommen.

Die Kanzlerin und ihre Regierung beharren darauf, dass es um eine Krise der Staatsfinanzen geht. Sie verdrängen die Realität, dass nämlich die Arbeitslosigkeit im Eurogebiet mit zwölf Prozent auf Rekordniveau verharrt, dass angesichts kümmerlicher Investitionen nach Jahren der Rezession und Stagnation das Wachstum selbst nach den optimistischen Schätzungen der OECD in den kommenden Jahren kümmerlich bleiben wird, dass die Länder Süd- und Osteuropas verarmen.

Es wird den Bewohnern dieser Länder nicht von Nutzen sein, wenn ihre Regierungen so tun, als hätten sie ihre Staatsfinanzen geordnet. Portugal und Griechenland haben an den Finanzmärkten neue Schulden aufgenommen. Der Jubel in Berlin und Brüssel sowie in den Finanzstädten London und Frankfurt/Main war groß. Die Käufer dieser Anleihen haben mit geringem Risiko ein gutes Geschäft gemacht. Der Zins, den sie einstreichen, ist erheblich höher als der, den Portugal und Griechenland an den von den Euro-Ländern installierten Hilfsfonds ESM zahlen müssen. Kurz: Es soll, ganz im Sinne von Frau Merkel, nur der Anschein erweckt werden, die Schulden dieser Staaten gingen zurück. In Wirklichkeit hat sich ihre Finanzlage durch die Anleiheemission verschlechtert.

Die Krise ist keine Folge der unordentlichen Staatsfinanzen. Sie ist vielmehr Folge einer ungeheuren Spekulationswelle, die vor sieben Jahren mit großem Getöse zusammengebrochen ist. Seitdem herrscht Wirtschaftskrise in allen Ländern Europas, in Nordamerika und in Japan. Die Banken sind mit Hunderten von Milliarden Euro und Dollar von den Regierungen herausgekauft und gerettet worden. Das hat gereicht, um das Finanzsystem am Leben zu halten. Aber die Banken wackeln immer noch. Warum? Weil es zu viele davon gibt, weil sie das Finanzvermögen der Reichen und Superreichen verwalten, die das Problem haben, für ihr täglich in rauen Mengen hereinkommendes Geld profitable Anlagen zu finden, was mitten in der Krise nicht gelingen kann.

In Euro-Europa ist die Lage besonders schlimm. Nicht einfach, weil es den Euro gibt, sondern weil die Währungsunion und die gesamte EU als ein völlig freier Kapitalmarkt konstruiert worden sind, in dem Menschen und Staaten in einen verheerenden Konkurrenzkampf, in einen Wettlauf um die Gunst des Kapitals gezwungen worden sind. Wer in diesem Wettlauf verliert, sieht alt aus. Die Staaten, die sich bei der Rettung ihrer Banken verhoben haben, wurden und werden einer Rosskur, einer grauenhaften Schlankheitskur unterworfen. Ein Diktat, auferlegt von der Troika aus EU-Kommission, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank. Das Ziel dieser Rosskur wird offen genannt: Es ist die Senkung des Lohnniveaus. Das ist es ja, worum es im Wettbewerb um die Gunst des Kapitals geht.

Der Gewinner in diesem Wettlauf sei Deutschland, darin sind sich Regierung, Medien, Banker und Unternehmensvorstände einig. Und tatsächlich geht es vielen Unternehmen in Deutschland zurzeit glänzend. Die Lage der Leiharbeiter, Dauerarbeitslosen, Kleinrentner und Billiglöhner aber ist unverändert schlecht. Dennoch scheinen, verglichen mit Italien, Griechenland und Spanien, die momentanen Zustände in Deutschland erträglich.

Denn seit Beginn der Euro-Krise fließt Kapital nach Deutschland. Es entflieht dem Süden Europas, wie es vor zehn Jahren aus Deutschland in den Süden emigriert ist. Damals war Deutschland Schlusslicht beim Wachstum, weil nach der Euro-Einführung in den südeuropäischen Nachbarländern die Zinsen sanken und höhere Gewinne lockten. Die deutschen Arbeitnehmer/innen wurden dafür mit der Agenda 2010 und sinkenden Reallöhnen zur Kasse gebeten. Wenn in zwei, vielleicht auch erst in fünf Jahren in Griechenland, Italien, Portugal und Spanien die Löhne tief genug gefallen sind, wenn dort Aktien, Unternehmen, Grund und Boden schön billig sind, dann schwappt auch das Kapital wieder dorthin zurück. Deutschland wird dann wieder wie zu Kanzler Schröders Zeiten der kranke Mann Europas und Wachstumsschlusslicht sein. Das ist ein verrücktes System. Es führt alle immer tiefer in die Krise. Wir sollten es uns nicht gefallen lassen.

Vielen deutschen Unternehmen geht es zurzeit glänzend. Die Lage der Leiharbeiter, Dauerarbeitslosen, Kleinrentner und Billiglöhner aber ist unverändert schlecht