Deutschlands Verantwortung für den Ersten Weltkrieg

Wolfgang Uellenberg-van Dawen ist Historiker und leitet die Abteilung Politik und Planung bei ver.di

Im Gedächtnis Frankreichs ist er La Grande Guerre, in der englischsprachigen Welt The Great War, in Deutschland der Erste Weltkrieg, dem ein von Nazideutschland ausgelöster noch schrecklicherer Zweiter folgte. 100 Jahre nach seinem Beginn gilt er als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. In der Tat war der Erste Weltkrieg der erste Waffengang der Menschheitsgeschichte, in dem Menschen in derartigen Zahlendimensionen dahingemordet wurden: 60 Millionen Kriegsbeteiligte, 17 Millionen Todesopfer. The Great War wurde als totaler Krieg geführt und am Ende durch die materielle Übermacht der Westalliierten entschieden.

Wer aber war verantwortlich für dieses weltweite Grauen? Seitdem die siegreichen Alliierten im Friedensvertrag von Versailles Deutschlands Schuld am Kriegsausbruch festgestellt hatten, ist diese Frage ein Politikum. Während reaktionäre und nationalistische Kräfte die "Kriegsschuldlüge" zum Baustein ihrer anti- demokratischen Propaganda machten, mühte sich die historische Forschung, die Schuld relativ gleichmäßig auf alle Akteure zu verteilen: Von einem Hineinschlittern in den Krieg, einem Automatismus der Bündnisse, einem "Verhängnis" war die Rede.

Auch die aktuelle Debatte in deutschen Medien und politischen Kreisen knüpft in erschreckendem Maße an diese These an: Großinterpreten wie Christopher Clark beschreiben die verantwortlichen Politiker und Militärs als eine Art Schlafwandler, die nicht wussten, welche Folgen ihr Handeln haben würde. Außenpolitiker ziehen eilig Parallelen zu den aktuellen Krisen in Osteuropa oder auch im Nahen Osten. Sie warnen vor Auto- matismen und verdecken eigene Interessen. Sie alle wollen nicht wahrhaben oder, schlimmer noch: Sie verschleiern, dass Kriege nicht von selbst ausbrechen und auch nicht als blinde Schicksalsmacht über die Menschheit kommen, sondern Folge machtpolitischer Interessen und aggressiver Aufrüstung sind.

Dabei müssten es zumindest die Historiker besser wissen: Denn die kritische Forschung in den siebziger Jahren, Historiker wie Fritz Fischer und Immanuel Geis haben die Verantwortung Deutschlands für den Ausbruch des Krieges herausgearbeitet. Der Griff nach der Weltmacht, so Fischer, war ursächlich für den Weg in den Krieg. Der jüngst gestorbene Bielefelder Historiker Hans Ulrich Wehler hat die sozialökonomischen, die innenpolitischen Triebkräfte herausgearbeitet, die in den Krieg führten: Die Flucht der herrschenden Klassen und der kaiserlichen Regierung in einen Angriffskrieg war eine Reaktion auf sich zuspitzende soziale Auseinandersetzungen.

Auch heute gibt es sehr gut recherchierte Darstellungen, die die Kriegsschuldfrage eindeutig beantworten: Im Kampf um die Verteilung von Kolonien, Rohstoffquellen und Einflussgebieten hatte Deutschland als erst 1870 geeinte Nation einen - wie der Kaiser und die führenden Wirtschaftskreise es sahen - großen Nachholbedarf gegenüber den klassischen Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich. Um diesen Anspruch zu untermauern und um Großbritannien zu erpressen, in der Kolonialfrage nachzugeben, hatte Deutschland die Hochrüstung seiner Flotte forciert. Hinzu kam die russisch-französische Allianz, von der sich Deutschland zunehmend eingekreist wähnte. Der deutsche Generalstab fürchtete, Frankreich und Russland daher auf Dauer unterlegen zu sein, und hatte seit 1905 einen möglichst frühen und schnellen Waffengang geplant, um zuerst Frankreich und dann Russland ausschalten zu können.

Begleitet wurde die allgemeine Aufrüstung durch eine zunehmend militaristische und chauvinistische Propaganda. Als Österreich-Ungarn mit dem Attentat von Sarajewo den willkommenen Anlass gefunden hatte, Serbien anzugreifen, fand es uneingeschränkte Unterstützung bei der deutschen Reichsregierung. Es war die österreichisch-ungarische Donauflottille, die am 29. Juli 1914 Serbiens Hauptstadt Belgrad beschoss. Und es waren dann deutsche Ulanen, die am 4. August 1914 bei Aachen die Grenze überschritten und ins neutrale Belgien einmarschierten. Das sind die Tatsachen, die den Beginn der Apokalypse markieren.

Darum gilt es, bei der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, wie bei jedem Blick auf Krieg und Kriegsursachen, immer die Interessen zu erkennen, Tatsachen und Täter zu benennen, mögliche Alternativen aufzuzeigen, die einen Krieg hätten verhindern können, und zu vermeiden, Geschichte so zu rekonstruieren, wie es gerade in den aktuellen politischen Mainstream passt.

Die Flucht der herrschenden Klassen und der kaiserlichen Regierung in einen Angriffskrieg war eine Reaktion auf sich zuspitzende soziale Auseinandersetzungen