Der Transparenz-Alptraum

Dave Eggers: Der Circle - So sieht die perfekte Arbeitswelt aus: moderne Büros, glückliche Mitarbeiter, innovative Produkte und kostenlose Freizeitangebote. Es ist die schöne neue Welt des Circle, eines fiktiven Konzerns, der wie ein Mix aus Facebook, Google und Apple wirkt. Dave Eggers zeigt dieses Unternehmen aus der Perspektive einer jungen Frau. Der US-Autor schildert, wie die 24-jährige Mae Holland begeistert ihren Job beim Circle antritt. Der Internetkonzern tut offenbar alles für seine Angestellten - und darüber hinaus alles, um die Welt sicherer und besser zu machen. Die Circle-Chefs, "die drei Weisen", wissen, wie sie das erreichen: mit totaler Transparenz. Mae Holland identifiziert sich mit dem Circle und seinen Zielen. Dass sie schon bald unter enormem Erfolgsdruck steht und sich permanent in internen Rankings nach oben arbeiten muss, beunruhigt sie nicht. Schließlich arbeitet sie ja für die Guten. Diese naive Sichtweise verwendet Dave Eggers als Spiegel für den unerschütterlichen Glauben an den digitalen Fortschritt. Den realen Transparenz-Hype und die Social-Media-Verzückung nimmt er mit seiner geradezu authentisch wirkenden Science-Fiction ebenfalls aufs Korn.

Wie George Orwell in 1984 oder Aldous Huxley in Schöne neue Welt entwirft Eggers eine düstere Vision. Er bietet seinen Leser/innen keine komplizierte These, sondern eine einfache Geschichte. Eine, in der sich jede/r Internetnutzer/in selbst erkennen kann. Und in der sich aus der glitzernden digitalen Welt ein Alptraum formt. Denn die Circle-Bosse streben nach Perfektion: "Jede Information, die uns entschlüpft, alles, was nicht zugänglich ist, hindert uns daran, vollkommen zu sein." Deswegen fordern sie: Jeder Bürger soll ein Gerät tragen, das alles dokumentiert.

Mae Holland unterstützt die lückenlose Überwachung und wird zur Vorzeigemitarbeiterin. Den Circle-Campus verlässt sie kaum noch, denn außerhalb gibt es Arbeits- und Obdachlose, "auf jeder Straße tausend Probleme, die mit dem Einsatz von verfügbarer Technologie und bereitwilligen Mitgliedern der digitalen Community behoben werden könnten". Dass dies ein gefährlicher Irrglaube ist, macht Dave Eggers mehr als deutlich. Sein packender Roman provoziert Diskussionen: über die Kommerzialisierung der Netzwerke, die Allmacht der Konzerne und den Verlust der Privatsphäre. Günter Keil

KIEPENHEUER & WITSCH, ÜBERSETZT VON ULRIKE WASEL UND KLAUS TIMMERMANN, 560 SEITEN, 22,99 €


Aurélie Filipetti: Das Ende der Arbeiterklasse - Sie kamen aus dem Herzen Italiens, arbeiteten in den lothringischen Eisenminen und Hochöfen, kämpften in der Résistance und als Gewerkschafter, schickten ihre Söhne in den Stollen und ihre Töchter auf die Haushaltsschule. Eine von ihnen aber ging nach Paris, studierte an der Elitehochschule École normale supérieure Literatur. Brachte es zur Kulturministerin, bis sie im August 2014 ging. Oder, als Linke, gegangen wurde: Aurélie Filipetti. Ihr Roman Das Ende der Arbeiterklasse ist ein Familienroman und erzählt zugleich die Geschichte der lothringischen Minenarbeiter und ihrer Familien: ihres Alltags, ihrer Kultur, ihrer Kämpfe, ihres Niedergangs. Und er erzählt von Aurélie Filipettis eigenen Gefühlen: dem Stolz, der Verbundenheit, der Verzweiflung. Und der verzweifelten Scham, als ein "Beure", ein arabischer Jugendlicher von einem "Gallier" erschossen wird - in ihrer "roten Heimat". Dieser Roman ist ein wütendes und todtrauriges Requiem für eine ganze Region. Komponiert von einer, die weiß, wovon sie schreibt, und gefeit ist vor Romantisierung. Klug, anrührend und hochinteressant. Ingrid Strobl

ROMAN, S. FISCHER VERLAG 2014, AUS DEM FRANZÖSISCHEN ÜBERSETZT VON ANGELA SANMANN 192 S., 19,90 €


Thomas Melle: 3000 Euro - Dieser Roman ist eines der herausragenden Bücher dieses Leseherbstes, ein kleines, feines Werk, nominiert für den Deutschen Buchpreis. Ganz nah dran an der Lebenswirklichkeit vieler Menschen, der sogenannnten kleinen Leute, die ganz groß - und damit literaturfähig - sein können. Hauptgestalten sind Denise, alleinerziehende Mutter und Kassiererin in einem Discounter. Und Anton, Ex-Jurastudent, tief abgestürzt, heute Flaschensammler und Bewohner eines Obdachlosenheims. Beide begegnen sich an der Supermarktkasse und trotz aller Vorsicht und gegenseitige Vorbehalte entwickeln sich allmählich zarte Bande. Die Titel gebenden 3000 Euro sind eine weitere Verbindung. Denise erwartet sehnlichst das versprochene Honorar aus einem Pornodreh, um sich einen lang gehegten Traum zu verwirklichen. Für Anton könnte exakt dieser Betrag den Anfang zur Rückkehr in ein bürgerliches Leben bedeuten. Am Schluss steht fast ein Happy End, aber anders, als man sich das gedacht hätte. Ein modernes Märchen, ein kleines bisschen Hollywood. Schön und hoffnungsvoll, aber ohne jeden Kitsch. Tina Spessert

ROWOHLT 2014, 203 SEITEN, 18,95 €