Der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff und sein Team haben die Realitäten in den bundesdeutschen Arbeitswelten ausgeleuchtet. Sie haben bei Paketdiensten, im Online-Versandhandel oder auch in Reinigungsfirmen gearbeitet. In ihrem gerade erschienen Buch kommen die Menschen zu Wort, die dort für viel zu wenig Geld unter oftmals unwürdigen Bedingungen arbeiten - die working poor. Wir dokumentieren im Folgenden Auszüge aus dem Kapitel über den weltweit größten online-Versandhändler Amazon

Wer bei Amazon die Arbeit aufnimmt, der taucht in eine ganz eigene Welt ein. Das gilt in vielfacher Hinsicht, und zu spüren bekommt es jeder neu Eingestellte (New Hire) von Anfang an. Zuerst bekommt er oder sie ein dickes Heft mit Regelwerk, Ethik und Verhaltenskodex in die Hand gedrückt. Die Verkehrssprache, das merkt man gleich, ist speziell "Amazonisch". Englische Ausdrücke für alles und jedes, für Positionen und Abläufe - und sie müssen wie Vokabeln gelernt werden, damit "die Receiver und Stower im Inbound, die Picker und Packer im Outbound" schnell drin sind in der "schönen neuen Amazon-Welt" mit ihren eigenen, häufig irritierenden und nicht nachvollziehbaren Regeln.

Die Receiver und Stower, die Picker und Packer, das sind die KollegInnen im Bereich Wareneingang und Lagerung (Inbound), die die Waren annehmen und einlagern, und diejenigen, die als Kommissionierer und Packer im Bereich Bestellbearbeitung und Warenausgang (Outbound) arbeiten. Sie stellen mit einem Anteil von etwa zwei Dritteln bis drei Vierteln den Großteil der rund 17.000 Beschäftigten in Deutschland und arbeiten im Zweischichtsystem in Früh- und Spätschicht, auch samstags.

Laufen, laufen, laufen

Ein Kollege aus dem Versandhandelszentrum, ein Picker, nennen wir ihn Martin, erzählt: "Du läufst dir die Füße wund, praktisch ununterbrochen acht Stunden am Stück. Nur wenn du einen Artikel aus dem Regal holst, stehst du mal einen Moment. Setzen ist verboten. Selbst wenn mal wenige Aufträge da sind und du Leerlauf hast, musst du stehen bleiben."

Anweisung per Scanner

Die Überwachung der Kollegen und ihrer Arbeitsleistung findet gleich von mehreren Seiten statt: durch den Handscanner, der alle Vorgänge registriert, durch Überwachungskameras an vielen Ecken, natürlich durch Vorgesetzte und manchmal auch durch Kollegen. Martin beschreibt: "Der Handscanner sagt dir, wo du hingehen musst: Halle, Etage, Regalnummer, Fach, Artikel. Dann musst du das Fach abscannen, den Artikel entnehmen, rundum ansehen, ob nichts beschädigt ist, das ist der berühmte ,Sechs-Seiten-Blick', dann den Artikel abscannen. In der EDV können die Vorgesetzten sehen, wie viele Leute gerade am Picken sind. Man sieht, wie viele Artikel jede Person picken sollte, man sieht, was noch fehlt, wie lange der letzte Pick her ist und wo der Picker da stand. Scheinst du ihnen zu langsam zu sein, bekommst du Anweisungen per Scanner: ,Bitte schneller picken!' oder du wirst gleich einbestellt: ,Bitte zum Leadplatz kommen!' Der Lead ist der Gruppenleiter. Leider kann man nicht zurückschreiben. Mit Kollegen unterhalten sollst du dich auch nicht, das kostet ja Zeit. Sie knapsen mit jeder Minute."

Druckmittel Befristung

"Den Befristeten wird gesagt: Wenn du schlechte Zahlen hast, wirst du nicht übernommen." Besonders viele Kollegen trifft es am Ende des Weihnachtsquartals. Alle haben geschuftet und hoffen, sie werden verlängert. Die einen sind dabei, die meisten müssen gehen. Im Amazon-Jargon sind die Mitarbeiter "hands", und der Vorgang des Rauswurfs der Befristeten heißt wie beim Viehtransport "ramp down", also die Rampe hinuntertreiben. Und so ähnlich geht es auch zu. Claus vom Standort Graben bei Augsburg erzählt: "Oft wird den Leuten bis zum letzten Tag der Befristung nicht gesagt, ob sie verlängert werden. Zum Beispiel nach dem Weihnachtsgeschäft werden die Kollegen in die Büros geschickt. Da empfängt sie dann nicht mal ein Mitarbeiter von Amazon, sondern einer von der Security-Firma. Im Büroflur werden die einen in Raum A, die anderen nach nebenan in Raum B geschickt. Der Security-Mitarbeiter geht dann erst in den einen Raum und sagt den Leuten, dass sie verlängert werden. Da gibt es natürlich großen Jubel. Das hören die Kollegen nebenan und wissen schon, dass sie die Niete gezogen haben. Ihnen nimmt man dann ihre Mitarbeiterkarte ab, sie müssen die Arbeitsklamotten und Sicherheitsschuhe abgeben, sofort ihren Spind leer räumen und gehen. Viele nehmen aber die Sicherheitsschuhe normalerweise mit nach Hause, ziehen sie morgens an und kommen mit ihnen zur Arbeit, denn unsere Spinde sind so klein, dass man Schuhe kaum reinkriegt. Im Weihnachtsgeschäft 2011 hab ich erlebt, dass dann welche am 31. Dezember barfuß vor die Tür gesetzt wurden und sehen konnten, wie sie nach Hause kamen."

Ab in die Notaufnahme

Wer als Besucher durch das Haus geführt wird, muss den Eindruck bekommen, dass man bei Amazon großen Wert auf Sicherheit und Arbeitsschutz legt. Zum Beispiel hängt an jeder kleinen Treppe ein Schild mit Piktogramm, dass man sich am Geländer festhalten soll. Wer es vergisst, wird von Vorbeigehenden mahnend darauf hingewiesen. Der Standort jedes Abfalleimers ist auf dem Boden markiert. Alles sieht wohlgeordnet aus. Hinter dieser Kulisse, die auch gern PolitikerInnen vorgeführt wird, sieht es mit Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz ganz anders aus.

Günter Wallraff (Hg.), Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall - flexibel schuften ohne Perspektive, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, ISBN 978-3-462-04625-0, 14,99€

Den Kontrast verdeutlicht eine Zahl: Amazon hat einen extrem hohen Krankenstand. In manchen Niederlassungen liegt er phasenweise bei zwischen 15 und 20 Prozent. Bei sommerlichen Temperaturen fielen die Leute in den vergangenen Sommern reihenweise um, es war damals nicht einmal qualifizierte Hilfe zur Stelle. An besonders heißen Tagen gab es täglich Krankentransporte. Denn wegen der standardisierten Stahlblechhallen, die auch im Sommer aus Furcht vor Diebstahl nicht geöffnet werden, der wenig effektiven Absaugvorrichtungen und der großen Staubentwicklung in den Lagern ist die Luft oft unerträglich stickig, besonders in den mehrstöckigen Hochregallagern, den sogenannten Picktürmen.

Martin berichtet: "Es gibt so viel, was nicht ,safe' ist bei Amazon, obwohl sie so viel Wirbel darum machen. Das ist alles Show. Wenn den Leuten schlecht wird, ist kein Sanitäter da, da wirst du vor die Türe geschickt. Im Sommer 2012 und 2013 wurden täglich Leute ohnmächtig, denen schlecht war wegen Hitze und staubiger Luft. Ich bin selbst mal zur Notaufnahme ins nächste Krankenhaus gefahren worden. Amazon hat schon Sammeltaxis zu diesem Krankenhaus geschickt. Das ist die größte Klinik in der Stadt, und man hat mir dort gesagt, die Notaufnahme sei überfüllt mit Amazon-Leuten, man solle sie doch auch zu anderen Krankenhäusern schicken."

Mit der Umsetzung zahlreicher Arbeitsschutzvorgaben, die in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben sind, ließ und lässt sich Amazon viel Zeit. Obwohl das Unternehmen schon fast eineinhalb Jahrzehnte in Deutschland präsent ist, fehlten bis Ende 2013: Betriebsarzt, Gefährdungsbeurteilungen der Arbeitsplätze, Fachkräfte für Arbeitssicherheit, Betriebssanitäter ...

Nur wenn dem Druck von Betriebsräten, Berufsgenossenschaft und Öffentlichkeit nicht mehr standgehalten werden kann, setzt man nach und nach Maßnahmen um: Jetzt gibt es einzelne Betriebssanitäter, und der TÜV hat seit Februar 2014 die betriebsärztlichen Leistungen übernommen.