BOSNIEN UND HERZEGOWINA

Ein zerrissenes Land

Gewerkschafter Enver Mehmedovic war mehr als 30 Jahre Dita-Techniker. Jetzt ist der Betrieb geschlossen

von Silviu Mihai

In Bosnien und Herzegowina geht das Ringen um politische Ämter in die letzte Runde. Seit vier Monaten versuchen die Vertreter der drei ethnischen Gruppen (bosnisch, serbisch, kroatisch), sich über die Zusammensetzung der neuen Regierung zu einigen. Dabei geben sich die Politiker immer wieder gegenseitig die Schuld für die miserable Wirtschaftslage, sie werfen den jeweils anderen Korruption vor und stellen manchmal sogar die Zusammenarbeit mit den anderen Ethnien in Frage. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im vergangenen Oktober hatten erneut die nationalistischen Parteien gewonnen. Jene Kräfte, die sich vor 20 Jahren militärisch bekämpft haben, hatten mit dem Versprechen von Stabilität die meisten Stimmen bekommen.

60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit

Die Innenstädte von Sarajevo und Banja Luka sind heute noch voller Wahlplakate der Parteien aller Richtungen, die "ein normales Land" und "Lösungen statt Slogans" versprechen - oder die Bekämpfung der horrenden Arbeitslosigkeit, die unter den jungen Menschen bei mehr als 60 Prozent liegt. Dabei bleiben die meisten Menschen sehr skeptisch, und das Land ist so gespalten wie eh und je. Einigungsversuche unter den ethnisch definierten und von Korruption geprägten politischen Kräften werden jedes Mal zur Quadratur des Kreises. Dementsprechend stehen die Chancen für eine Überwindung der tiefen sozialen Krise nicht gut.

Der Hauptgrund dafür liegt nahe: Das hochkomplexe und ineffiziente politische System, das 1995 in der Verfassung des Landes festgeschrieben wurde, bietet wenig Spielraum für die Durchsetzung tiefgreifender Reformen, die die Wirtschaft ankurbeln und die Gesellschaft gerechter gestalten könnten. Weil selbst die von den Gewerkschaften initiierten zahlreichen Proteste im Frühjahr 2014 wenig gebracht haben, sind viele Menschen ratlos, was die Zukunft des Landes angeht.

"Daran ist auch die EU schuld", glaubt Feđa Kazlagić, 30-jähriger Deutschlehrer aus Banja Luka. "Es hat überhaupt keinen Sinn, uns mit Geld zu überfluten, wie zum Beispiel letzes Jahr nach der Hochwasserkatastrophe. Man weiß ja genau, dass nur ein Bruchteil dort ankommt, wo es wirklich benötigt wird." Kazlagić unterrichtet an mehreren Schulen und privat, oft mehr als zehn Stunden am Tag, auch am Wochenende. "Alle wollen Deutsch lernen, damit sie später eine Stelle in Mitteleuropa finden", sagt er. "Ich selber würde mich natürlich freuen, wenn der Unterricht besser bezahlt wäre, dann hätte ich auch Zeit für ein Privatleben. Aber ich muss froh sein, dass ich überhaupt Arbeit habe, ich gehöre zu den ,Privilegierten', die sich ausbeuten lassen können."

Für die Rechte der Beschäftigten

Ähnlich sieht es auch Tamir Kuko, der 25 ist, Marketing studiert und abends als Kellner in einem Café in der Altstadt von Sarajevo arbeitet. Vor einem Jahr hat er an den Protesten teilgenommen, die das Land erschütterten. "Wir wollen einfach arbeiten, in einem normalen Land", sagt er. "Doch diese Perspektive rückt immer wieder in weite Ferne. Bei uns ist fast niemand vom privaten Dienstleistungssektor Gewerkschaftsmitglied. Das ist zu riskant. Wenn hundert andere hinter dir auf einen Job warten, kann der Arbeitgeber machen, was er will. Schickt er dich, Blumen für seine Frau zu kaufen, dann machst du das halt, oder du fliegst raus."

In Tuzla, wo vor einem knappen Jahr die Proteste angefangen haben, kämpft die 54-jährige Gewerkschafterin Emina Busuladžić seit Jahren für die Rechte der Beschäftigten. Die Waschmittelfabrik Dita, bei der sie als Chemietechnikerin arbeitete, wurde nach der gescheiterten Privatisierung geschlossen. Zuvor hatte der Arbeitgeber monatelang keine Löhne mehr gezahlt. Busuladžić, eine der wichtigsten Aktiven in der Protestbewegung, war stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Dita, als ihr und ihren Kollegen gekündigt wurde. Es folgte ein langer Streit vor Gericht. "Doch bis heute haben wir nur einen Bruchteil unserer Gehälter aus den vergangenen zwei Jahren bekommen", sagt sie. "Wenn der Staat nicht in der Lage ist oder nicht den politischen Willen hat, gesetzliche Bestimmungen und Gerichtsbeschlüsse durchzusetzen, hilft auch Gewerkschaftsarbeit allein nur wenig. Du gewinnst den Prozess, und dann passiert doch nichts."

Doch aufgeben wollte Emina Busuladžić nicht. Deshalb beschloss sie letztes Jahr, bei den Wahlen für eine der wenigen multiethnischen Linksparteien zu kandidieren. Mit Erfolg: Sie zog als Abgeordnete ins Kantonsparlament. "Wir haben noch einen langen Weg vor uns", sagt sie.

Ähnlich sieht auch Federica Mogherini die Lage, die Außenbeauftragte der EU, die Ende Februar zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Monaten nach Bosnien reiste, um die Politiker davon zu überzeugen, dass eine schnellere Annäherung an Europa und die dafür erforderlichen Reformen wichtiger sind als ethnische Spaltungen. Die Bilanz des Besuchs ist allerdings bescheiden: Zwar verpflichtete sich das neu gewählte Parlament dazu, das Stabilisierungsabkommen mit der EU anzuwenden. Doch die strukturellen Probleme bleiben. "Kein Weg führt daran vorbei, für unser Land eine neue Verfassung ohne ethnische Kategorien zu schreiben", sagt Deutschlehrer Feđa Kazlagić. "Wir haben alle die gleichen sozialen Probleme, viele wollen zurzeit raus aus Bosnien. Vielleicht sollte das unsere neue Identität sein, unabhängig von der ethnischen Gruppe."