Apostolos Kapsalis ist Arbeitsrechtsforscher. Er war wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Arbeitsinstitut INE des griechischen Gewerkschaftsbundes GSEE. Seit März leitet er die Arbeitsaufsichtsbehörde im Arbeitsministerium

ver.di publik - Die Schuldenverträge zwischen der Europäischen Zentralbank, dem Internationalen Währungsfonds, der Europäischen Kommission und dem griechischen Staat sind an harte Bedingungen geknüpft. Welche Folgen hat das für das Arbeitsrecht und die Gewerkschaften?

Apostolos Kapsalis - Es war das Ziel, mehr als 90 Prozent des kollektiven Tarif- und Arbeitsrechtsrechts abzuschaffen. Heute gehören das kollektive Arbeitsrecht und das Recht auf Tarifverhandlungen, die bis 2009 bestanden, der Vergangenheit an. Für eine Gewerkschaft ist es so gut wie unmöglich, mit den Arbeitgebern einen Tarifvertrag auszuhandeln. Viele Gewerkschafter in Deutschland verstehen das nicht, weil die Gewerkschaften bei ihnen viel Kraft haben. In Griechenland sind sie jedoch in einer schwachen Position. 98 Prozent der Unternehmen haben nur zehn bis zwölf Beschäftigte. Und wir haben keine Kultur der Branchengewerkschaften, sodass wir gegenüber den Arbeitgebern keine große Verhandlungsmacht haben.

ver.di publik - Was hat die Arbeitgeber dann überhaupt jemals dazu gebracht, Tarifverhandlungen zu führen?

Kapsalis - Das 1990 verabschiedete Tarifgesetz, dem alle Parteien zugestimmt hatten. Mit einem Schlichtungs- und Schiedsverfahren wurden die Verträge letztendlich durchgesetzt.

ver.di publik - Was ist an die Stelle dieses Systems getreten?

Kapsalis - Was wir noch haben, sind die Personenvereinigungen. Das sind keine Gewerkschaften, sie haben aber die Möglichkeit, mit drei Fünfteln der Beschäftigten eines Betriebs eine Verhandlungskommission zu wählen, die mit dem Arbeitgeber einen Haustarifvertrag abschließen kann. Meist geschieht das auf Initiative des Arbeitgebers, dann heißt es oft: Unterschreibt oder ich entlasse euch. Hier stehen eure Namen und die Lohnsenkung von 25 bis 30 Prozent. Das erinnert an die Anfänge der Arbeitsrechtsgesetze von 1910 bis 1920.

ver.di publik - Wo steht die Gewerkschaftsbewegung jetzt?

Kapsalis - Auch wenn sie in der Krise kämpferisch war, ist es ihr nicht gelungen, die Katastrophe im Arbeitsrecht und im Sozialversicherungssystem abzuwenden. Die Schwäche der Gewerkschaften liegt in ihrer Zersplitterung; wir haben zurzeit ungefähr 4 000 Basis-, Betriebs- und Branchengewerkschaften. Das ist Weltrekord, gemessen an der Bevölkerung und der Zahl der Beschäftigten. Was wir jetzt brauchen, sind höchstens fünf bis sechs große Branchengewerkschaften für das Land. Ein weiteres Problem ist die starke Orientierung der Gewerkschaften an den Parteien.

ver.di publik - Die Syriza-Regierung hat erklärt, sie wolle das Arbeits- und Tarifrechtrecht wiederherstellen und den Mindestlohn wieder auf das Niveau von 2009 anheben. Ist das zu schaffen?

Kapsalis - Schrittweise, ja. Wenn du einen Turm einreißt, geht das an einem Tag. Um ihn wieder aufzubauen, benötigst du ein Jahr. Die Regierung wird die Gesetze verabschieden, um das kollektive Arbeitsrecht, Tarifverhandlungen und Tarifrecht wiederherzustellen. Doch in den letzten Jahren haben wir eine Katastrophe erlebt. Die Arbeitslosigkeit liegt zum Beispiel bei den Jugendlichen bei 55 Prozent. Wir haben eine Million Beschäftigte, die seit zwei bis 15 Monaten auf ihren Lohn warten. Viele kleine Betriebe würden einen sofortigen Anstieg des Mindestlohns auf das Niveau von 2009 im Moment nicht verkraften. Die Folge wäre, dass jeder zweite Beschäftigte seine Arbeit verlieren würde. Es käme auch zu einem Anstieg der Schwarzarbeit. Den müssen wir verhindern. Wir brauchen Zeit. Mit einem Wirtschaftswachstum von jährlich drei Prozent brauchen wir 30 Jahre, um wieder auf die Arbeitslosenzahlen von 2009 zu kommen. Griechenland ist praktisch zerstört worden. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes ist die Zahl der nicht arbeitenden Menschen größer als die der arbeitenden. Das muss sich ändern.

Interview: Babis Ganotis

Oft heißt es: Unterschreibt oder ich entlasse euch. Hier stehen eure Namen und die Lohnsenkung von 25 bis 30 Prozent. Das erinnert an die Anfänge der Arbeitsrechtsgesetze von 1910 bis 1920