Ausgabe 05/2015
"Das ist alles echt krass"
Esther Bejarano spielte im Konzentrationslager Auschwitz im Mädchenorchester und überlebte. Damit Nazis nie wieder eine Chance bekommen, steht sie mit 90 Jahren und der "Mircophone Mafia" noch immer auf der Bühne und rappt gegen Rechts
Aus den Boxen dröhnen laute Beats, zwei Männer springen in XXL-Shirts und Kapuzenjacken übers Parkett. In der Mitte am Mikrofon: Esther Bejarano, 90 Jahre alt, die kurzen weißen Haare ordentlich gekämmt, in grünschillerndem Jackett. Als einer der beiden Männer die Anlage aufdreht, lächelt sie ihn an. Es ist Kutlu Yurtseven. Der 42-Jährige rappt, das Mikrofon dicht am Mund. Beim Refrain stimmt die alte Dame ein, singt mit kräftiger Stimme "Shir la Shalom". Später nimmt Esther Bejarano die Hand des anderen Rappers, Rossi Pennino, 43, - und tanzt, streckt den Fuß zur Seite, ein ums andere Mal. Das Publikum in Fulda klatscht im Takt, ein junges Pärchen in der ersten Reihe zückt ein Feuerzeug.
Kutlu ist Moslem, Rossi Christ
Esther Bejarano hat das KZ Auschwitz überlebt, weil sie Akkordeon im Mädchenorchester spielte. Die Musik begleitet ihr Leben, bis heute. Regelmäßig ist sie mit der Kölner Rap-Band "Microphone Mafia" auf Tour, zusammen mit Sohn Joram, 62, am Bass. Sie bringen jüdische Volkslieder, italienische Arbeiterlieder wie Bella Ciao, Antikriegslieder auf die Bühne. Damit wollen sie ein Zeichen gegen Rechtsextremismus setzen. "Wir sind drei Generationen auf der Bühne", sagt die 90-Jährige. Na ja, fügt sie hinzu, so richtig jung seien die beiden Rapper auch nicht mehr. "Und drei Religionen." Kutlu ist Moslem, Rossi Christ und sie Jüdin. Für die alte Dame steht fest: "Mit Musik kann man die Menschen überzeugen." Und mit Rap und Hip-Hop speziell die Jugend.
Deshalb hat Esther Bejarano nicht lange gezögert, als die 1989 gegründete "Mircophone Mafia" vor einigen Jahren bei ihr anklopfte und fragte, ob sie bei einem Musikprojekt gegen Rassismus mitmachen wolle. Ihre erste Reaktion: "Mit der Mafia will ich nichts zu tun haben." Doch die Rapper besuchten sie in Hamburg, bei Kaffee und Kuchen merkten alle schnell, dass sie gut zusammenpassen. Kutlu sagt: "Wir sind Musiker, die politisch sind." Und überzeugt, dass der Widerstand ein Lächeln auf dem Gesicht braucht. Nicht nur Betroffenheit. "Eine tolle Band", findet Esther Bejarano. Sie hat die beiden sofort ins Herz geschlossen, nennt sie ihre Enkel.
Ihre Mission
"Ich singe meine Lieder, sie rappen, das harmoniert wunderbar", sagt die alte Dame. Für sie sei das eine tolle Chance, Jugendliche zu erreichen. Über ihr Engagement an Schulen hinaus. Seit mehr als 20 Jahren ist Esther Bejarano als Zeitzeugin aktiv. Ihre Mission: "Ich versuche, Schüler zu überzeugen, dass sie sich nicht krallen lassen von diesen schrecklichen Nazis." Früher sei das Thema an vielen Schulen ein Tabu gewesen, sagt die KZ-Überlebende. Die Jugendlichen seien beklommen gewesen, hätten kaum etwas gefragt. Das habe sich verändert. Die Schülerinnen und Schüler seien heute sehr aufgeschlossen.
An diesem Tag in Fulda ist der Andrang schon vormittags so groß, dass die Turnhalle der Schule nicht ausreicht. Kurzfristig wird das Zeitzeugengespräch in die Christuskirche verlegt. Dort quetschen sich rund 1000 Jungen und Mädchen auf die Kirchenbänke, einige hocken auf den Stufen vor dem Altar. Eingeladen zu der Veranstaltung hat das Bündnis "Fulda stellt sich quer" zum 70. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus. Als Esther Bejarano ihre Biografie aufschlägt, ist es in der Kirche still. Die zierliche Frau beginnt in den 1930er Jahren in Ulm: Ihr Bruder und eine Schwester fliehen ins Ausland, die andere Schwester - Ruth - geht nach Holland, will nach Palästina auswandern. Esther kommt 1941 ins Arbeitslager. Von ihren Eltern hört sie nichts mehr. Später erfährt sie, dass Mutter und Vater in einem Wald erschossen wurden. Im Februar 1942 erhält sie noch einmal eine Nachricht von ihrer Schwester. "Ab da erhielt ich nie wieder einen Brief von Ruth." Auch sie wurde ermordet.
Nur noch eine Nummer
In der Kirche sitzen die Jugendlichen versteinert auf ihren Plätzen, ein Junge im grauen Shirt reibt sich die Nase, ein Mädchen in Jeansjacke schließt die Augen, ihre Freundin schnieft leise. Esther Bejarano liest weiter, schildert, wie sie nach Auschwitz kommt, sich nackt ausziehen muss, ihre Haare geschoren werden. Auf dem linken Oberarm wird ihr die Zahl 41.948 eintätowiert. "Namen wurden abgeschafft, wir waren nur noch Nummern." Die junge Frau muss schwere Steine schleppen. Es rettet ihr das Leben, dass im Mädchenorchester noch Musikerinnen gesucht werden. Esther hat zuvor nie ein Akkordeon in der Hand gehabt, improvisiert. Sie übt den Schlager Du hast kein Glück bei den Frauen, Bel Ami, wird im Orchester angenommen.
Fortan spielt sie Märsche, wenn die Arbeitskolonne durchs Tor marschiert oder neue Transporte aus ganz Europa ankommen. Die Menschen winken ihnen zu. "Wahrscheinlich dachten sie: Wo Musik spielt, kann es so schlimm nicht sein", sagt sie. "Was für eine schreckliche psychische Belastung war das für uns, das Orchester."
Später kommt Esther Bejarano ins KZ Ravensbrück, kann 1945 auf einem Todesmarsch mit ihren Freundinnen fliehen. Als der Krieg zu Ende ist, tanzen die Mädchen um ein brennendes Hitlerbild, Esther spielt auf dem Akkordeon. "Das war meine Befreiung vom Hitlerfaschismus. Und ich sage immer, es war wie meine zweite Geburt." Esther Bejarano schlägt das Buch zu, blickt zu den Jugendlichen: "So, jetzt seid ihr dran. Ihr könnt mich alles fragen, was ihr wollt. Aber bitte deutlich."
Sofort bildet sich eine lange Schlage am Mikrophon. Lina will wissen: "Haben Sie die Tätowierung immer noch?" Amina: "Sind Sie traurig darüber, was Sie erlebt haben?" Tommy: "Wie können Sie nachts schlafen, nach all den Erlebnissen?" Esther Bejarano beantwortet geduldig alle Fragen. Und ist deutlich: Was passiert ist, darf nie vergessen werden. Zeitzeugen werde es nicht mehr lange geben. Deshalb gehe sie an Schulen, erzähle ihre Geschichte. Immer wieder. "Damit ihr wisst, was geschah und das weitertragt", sagt die 90-Jährige.
Aus erster Hand
Als das Gespräch endet, pfeifen und klatschen die Jugendlichen, erheben sich von ihren Plätzen. Die 17-jährige Jasmin sagt, sie habe schon einiges über die NS-Zeit gelesen. "Aber es ist etwas ganz anderes, wenn man es aus erster Hand erzählt bekommt." Dieser Meinung ist auch Benedikt. Sie hätten das Thema gerade im Geschichtsunterricht. Aber vieles davon habe er nicht wirklich verstehen können. Es sei beeindruckend, dass Esther Bejarano so offen über alles spreche. Am meisten habe ihn berührt, wie sie ihre Eltern und ihre Schwester verloren habe, sagt der 16-Jährige.
Draußen steht Juliana, 12, mit ernstem Gesicht: "Das ist alles echt krass." Auch ihre Freundin Emma hat das Gespräch mitgenommen: "Dass die Menschen so etwas machen." Sie würden gerne etwas tun, sagen die Mädchen - wenn sie größer sind, vielleicht bei einer Organisation mitmachen oder so.
Am Nachmittag sitzt Esther Bejarano beim Pressegespräch, topfit, nippt an einer Tasse schwarzem Tee. Mit 90 Jahren habe sie ein paar Zipperlein. Doch das sei nicht schlimm. Sie schöpfe Kraft daraus, wenn die jungen Leute ihr zuhörten und zujubelten. Abends beim Konzert im Festsaal der Orangerie liest die alte Dame wieder aus ihrer Biografie. Danach wirft sie eine Kusshand ins Publikum, packt ihre Brille weg und stellt sich ans Mikrofon. Aus den Boxen wummert Musik.
Esther Bejarano singt. Über Krieg und Widerstand. Einige Zuhörer wippen mit dem Fuß, andere nicken mit dem Kopf im Takt. Nur wenige reißt der Beat von den Polsterstühlen. Trotzdem sind alle beeindruckt. "Ich finde Esther Bejarano ziemlich cool", sagt Maria, 18. Viele Jugendliche finden die Inhalte der Lieder toll, die Botschaft dahinter. Und die Musik selbst? "Nicht schlecht", sagt Leon. "Auf jeden Fall unterhaltsam." Deutlich mehr Eindruck hinterlässt die Lesung. Mit seinen Großeltern kann der 18-Jährige über das Thema nicht so sprechen. "Sie gehören selbst zur Nachkriegsgeneration."