Immer mehr Firmen versuchen, das Arbeitszeitgesetz zur Sonntagsarbeit zu umgehen. Jetzt auch die Callcenter-Betreiber - unter falschen Vorgaben

von Gudrun Giese

Wer nach den Besonderheiten des Sonntags fahndet, landet schnell bei der christlichen Überlieferung. Dass Gott nach sechstägigem Schöpfungswerk am siebten Tage ruhte, gehört dabei sicher zu den schönen, weil anschaulichen Mythen, die als Handlungsanleitung für jeden brauchbar erscheinen: Wer arbeitet, braucht Ruhepausen, und zwar regelmäßige. Dass andere Religionen andere Wochentage als obligatorische freie Tage für alle etabliert haben, ist für die aktuelle Diskussion unerheblich, denn es geht um die Frage, ob ein regelmäßiger freier Tag für alle auch in unserer - christlich geprägten - Kultur Bestand haben kann oder über Bord geworfen wird.

Tatsächlich erschließt sich vor allem in Großstädten manchmal schwer, was Sonntage von Werktagen unterscheidet: Geschäfte öffnen aus "besonderem Anlass" bis zu elf Mal im Jahr, wie in Berlin. Tankstellen und Spätis haben sowieso an sieben Tagen rund um die Uhr geöffnet, und wer Bankgeschäfte am Sonntag abwickeln, die fertige Steuererklärung ans Finanzamt leiten oder ein Buch bestellen will, der nutzt die allgegenwärtigen Online-Portale. Sonntag? Diffuse Erinnerungen an einen seltsam ruhigen Tag mit vormittäglichem Kirchgang (für manche), Sonntagsbraten, Verwandtenbesuchen und Familienausflügen stellen sich vorwiegend bei Älteren ein.

Ausnahmen bestätigen die Regel

Gleichwohl heißt es im Arbeitszeitgesetz, dass grundsätzlich die Sonn- und Feiertagsruhe einzuhalten ist - und Ausnahmen nur für Arbeiten zulässig sind, die nicht an Werktagen erledigt werden können. Die Liste der Ausnahmen ist durchaus lang und erklärt sich zum Teil von selbst, etwa bei der Arbeit von Rettungssanitätern, Feuerwehrleuten, Krankenhausärzt/innen. Notfälle ereignen sich nun einmal unabhängig von Wochentagen und müssen umgehend versorgt werden. Wie ist es dann aber mit Kino- und Theatervorführungen, Gaststätten-, Sport- oder Schwimmbadbesuchen? Hier greift eine seit langem geübte Praxis, dass Kultur- und Freizeitaktivitäten gerade deshalb an Sonntagen ermöglicht werden müssen, weil die Mehrheit der Menschen frei hat und gemeinsames Ausgehen oder Spaßhaben so erst Wirklichkeit werden können.

Eine Minderheit der Arbeitnehmer/innen muss also an Sonntagen arbeiten. Da setzen Kritiker oft an und behaupten, dass es dann ja nicht schlimm wäre, weitere Berufsgruppen an diesem Tag arbeiten zu lassen. Und so wollen etwa immer mehr Callcenter-Betreiber ihre ohnehin schlecht bezahlten Mitarbeiter/innen auch noch an Sonntagen Reklamationen und Bestellungen telefonisch annehmen lassen. Schließlich gebe es dafür ja einen Sonntagszuschlag. Darüber freuen sich vor allem Studierende oder andere auf Zeit im Callcenter Jobbende, da sie ein paar Euro extra gut brauchen können und gleichzeitig wissen, dass sie nicht dauerhaft zu solchen Bedingungen arbeiten müssen. Doch jene, die ein ganzes Berufsleben und in Vollzeit in diesem Bereich arbeiten, wollen weiter ihren freien Sonntag haben und sehen das Arbeitszeitgesetz dabei klar auf ihrer Seite, das ja eindeutig besagt, Ausnahmen dürfe es nur für Arbeiten geben, die nicht an Werktagen erledigt werden können. Und dass eine Warenbestellung oder eine Reklamation auch an einem Montag oder Donnerstag angenommen und erledigt werden kann, lässt sich wahrlich nicht bestreiten.

Callcenter ziehen laxen Gesetzen hinterher

Die Callcenter-Betreiber weiten dennoch die Sonntagsarbeit stetig aus - und berufen sich dabei auf die Bedarfsgewerbeordnungen der Länder, die sehr viel unbedenklicher den arbeitsfreien Sonntag zur Disposition stellen als das bundesweit geltende Arbeitszeitgesetz. Nun gibt es allerdings höchstinstanzliche Entscheidungen zur Sonntagsarbeit: Das Bundesverfassungsgericht hatte bereits 2009 mit Blick auf die ausgedehnten Ladenöffnungszeiten die besondere Schutzwürdigkeit des Sonntags nach Artikel 140 Grundgesetz unterstrichen. Im November 2014 urteilte wiederum das Bundesverwaltungsgericht konkret zur Sonntagsarbeit in hessischen Callcentern, dass diese unzulässig sei, sofern es dabei nicht um Notdienste im Sinne der im Arbeitszeitgesetz geregelten Ausnahmen gehe. In Hessen hatte sich unter anderem ver.di an der Klage gegen die dortige Bedarfsgewerbeordnung vor dem hessischen Verwaltungsgerichtshof beteiligt. Der erklärte bereits im September 2013 zentrale Bestimmungen dieses Regelwerks für unwirksam; das betreffe die Beschäftigung von Menschen in Callcentern, etwa im Versandhandel, beim Online-Banking und im Reisegewerbe. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte dieses Urteil in wesentlichen Teilen.

Damit wäre eigentlich alles bestens geregelt. Callcenter-Arbeit, die nicht im Zusammenhang mit Notfällen wie Kreditkartensperrungen oder Schlüsseldiensten steht, wäre ausgeschlossen. Doch die Callcenter-Betreiber sind hartnäckig. Da Hessen die Sonntagsarbeit untersagt, wandern sie in andere Bundesländer ab, deren Bedarfsgewerbeordnungen noch nicht von einem Gericht für unwirksam erklärt worden sind. Und der Interessenverband der Callcenter-Arbeitgeber möchte gar den Bundesgesetzgeber dazu bewegen, das Arbeitszeitgesetz an die vorgeblichen Bedürfnisse nach Sonntagsarbeit anzupassen.

ver.di hat inzwischen eine beim Bundesvorstand angesiedelte, fachbereichsübergreifende Arbeitsgruppe eingerichtet, die gegen diesen Vorstoß vorgeht. Callcenter sind bei den Finanzdienstleistungen, Telekommunikation, Handel und Besonderen Dienstleistungen angesiedelt. Interessanterweise können (oder wollen) die Betreiber der verschiedenen Callcenter keine konkreten Zahlen vorlegen, die den angeblichen Bedarf an Sonntagsarbeit in diesem Sektor belegen würden. ver.di hat jedenfalls ermittelt, dass der Anteil an Sonntagsarbeit in Callcentern eher gering ist, dass die Mehrheit der Beschäftigten keinesfalls an Sonntagen arbeiten möchte, und wenn, dann nur wegen der Zuschläge, denn Callcenter-Arbeit ist generell schlecht bezahlt. Würde der Sonntag allerdings zum Regelarbeitstag, dann fielen Zuschläge ohnehin fort.

Für ver.di ist klar, dass eine bundeseinheitliche Regelung her muss - nicht über mehr Ausnahmen im Arbeitszeitgesetz, sondern über Anpassungen der Bedarfsgewerbeordnungen der Länder auf der Grundlage des Bundesverwaltungsgerichtsurteils. Und bereits das Bundesverfassungsgericht hatte ja 2009 klargestellt, dass die "staatliche Gewalt der Freigabe der Sonntagsruhe Rechnung tragen (müsse), indem dies nur aus sachlichen Gründen geschehen darf, die sich nicht in bloßen Umsatz- und Erwerbsinteressen erschöpfen". Im Klartext: Es reicht nicht, den Wunsch nach mehr Kommerz oder Verbraucherbequemlichkeit anzuführen, um die Sonntagsruhe weiterer Arbeitnehmergruppen aufzuweichen.

Frauen stärker betroffen

Gerade in Callcentern arbeiten zudem sehr viele Frauen, die ohnehin mit der Mehrfachbelastung durch Erwerbs-, Haus- und Familienarbeit jonglieren. Der verlässliche freie Sonntag ist gerade für sie eine wichtige Auszeit. Schon 2013 mussten rund 28 Prozent der deutschen Beschäftigten regelmäßig an Sonntagen arbeiten; im Durchschnitt der EU-Länder lag der Anteil lediglich bei 15 Prozent. Frauen waren aber EU-weit stärker von Sonntagsarbeit betroffen.

Es ist also höchste Zeit, die weitere Ausdehnung der Sonntagsarbeit zu verhindern bzw. zurückzudrängen, wo sie bereits stattfindet. Ein gemeinsamer freier Tag pro Woche ist kein überflüssiger Luxus. Immerhin gab es mal den DGB-Slogan "Samstag gehört Vati mir". Nun sollten wenigstens am Sonntag Vati und Mutti Zeit für Kinder, Freunde, für Faulenzen, Sport- oder Kunstgenuss haben. Das stressige Shoppen und Bestellen lässt sich ja auch auf einen der übrigen sechs Wochentage verschieben.