Ein Kongress und viele Delegierte voller Energie

Die einen geben Fotobücher digital in den Druck, andere bestellen über Nacht noch schnell ein Geschenk bei Amazon und tragen zuweilen am Handgelenk Gesundheitsarmbänder, die Blutdruck und Puls messen und sogar den Schlaf überwachen. Das Leben ist ohne die Digitalisierung für viele kaum noch denkbar. Doch sie hat auch Schattenseiten.

Beim Online-Versandhändler Amazon wissen die Vorgesetzten jederzeit jedes Detail über die Arbeit der Angestellten, sagte Annett Kaub, Delegierte aus dem ver.di-Bezirk Osthessen und Amazon- Beschäftigte, auf dem 4. ver.di-Bundeskongress: "Wenn wir mit der Arbeit beginnen, haben die meisten von uns einen Scanner in der Hand, sodass jederzeit nachvollziehbar ist, wo sich der Kollege gerade befindet, ob er vielleicht mal inaktiv war, wie lange er für den nächsten Klick gebraucht hat, weil er vielleicht gerade mal zum nächsten Fach läuft oder mal zur Toilette geht."

Ähnlich beobachtet und kontrolliert wird auch in Callcentern. "Callcenter-Tätigkeiten bedeuten, dass jeder Schritt von Leuten, die in der Produktion sind, erfasst wird, dass genau festgestellt wird, wie häufig es klingelt, bis das Telefonat angenommen wird, wie lange das Gespräch dauert, wie lange man hinterher in der Nachbereitung ist, auch wenn man E-Mails schreibt und chattet. Alles das wird minutiös festgehalten, und man kann das quantitativ und qualitativ auswerten", berichtete der Delegierte und Callcenter-Beschäftigte Christian Szepan.

Die Folge: Die dauerhafte und auf Leistungssteigerung ausgerichtete Kontrolle setzt die Beschäftigten unter ständigen Druck. Schöne neue Arbeitswelt? Fest steht, dass die Digitalisierung unser Leben verändert. In allen Branchen, das zeigte auch der Kongress. Das Thema Digitalisierung zog sich durch viele Diskussionen und Antragspunkte - mit ihren Chancen und ihren Risiken. Klar wurde: Sie muss gestaltet werden. ver.di will das Feld nicht den Arbeitgebern überlassen. Gute Arbeit und gute Dienstleistungen muss es auch in einer Welt geben, in der Digitalisierung und digitale Vernetzung Gesellschaft und Arbeitswelt erfassen.

Chancen und Risiken

"Wir stecken schon mittendrin in der Digitalisierung", sagte Monika Brandl, die Vorsitzende des ver.di-Gewerkschaftsrats. Doch was ist Digitalisierung eigentlich? Sie ist jedenfalls nicht mehr wie noch in den 1950er Jahren der Gegensatz von Mensch und Maschine, sagte die Wissenschaftlerin Kira Marrs vom Institut für Sozialforschung München. Die aktuelle Digitalisierung sei viel mehr: "Mit dem Aufstieg des Internets zu einem global verfügbaren Informationsraum hat ein regelrechter Produktivkraftsprung stattgefunden." Und der habe zwei Seiten: Die eine sei die neue Qualität der Nutzung und Vernetzung, die andere eine neue Qualität der Überwachung, Kontrolle und Verhaltenssteuerung.

Die Mitbestimmung auffrischen

"Wir müssen mobile Arbeit in den Griff kriegen", sagte ver.di-Vorstandsmitglied Lothar Schröder. "Es geht uns um Persönlichkeitsrechte und deren Schutz." ver.di fordert ein Arbeitnehmerdatenschutzgesetz, das diesen Namen auch verdient. Es reiche nicht mehr, so Schröder, dass Gewerkschaften innerhalb der Betriebe Einfluss nehmen können: "Wir brauchen Mitbestimmungsrechte bei den Persönlichkeitsrechten." Er regte eine breite Initiative innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes an, die Gedanken der Mitbestimmung aufzufrischen, zu modernisieren und zu erweitern. Denn durch die Digitalisierung werde die Mitbestimmung zukünftig noch stärker an ihre Grenzen stoßen.

Arbeit wird viel unabhängiger von Ort und Zeit und kann leichter verlagert werden. Sie kann in kleinste Arbeitsschritte zerlegt werden. Diese Mikroaufgaben werden weltweit über Internetplattformen ausgeschrieben, Solo-Selbstständige und Freelancer erarbeiten Lösungen für die dort gestellten Aufgaben ohne Gewähr, dafür entlohnt zu werden. So ist es auch heute schon möglich, dass Menschen in verschiedenen Ländern sich rund um die Uhr ein Projekt weiterreichen, um daran zu arbeiten, zu unterschiedlichen Bedingungen bei Lohn, Arbeitszeit und Gesundheitsschutz. "Deswegen benötigen wir auch einen Mindestlohn in der Digitalisierung", forderte Stephan Tregel, Delegierter aus dem ver.di-Bezirk München, egal, wie kleinteilig die Arbeit sei.

Egal, ob Solo-Selbstständige, Scheinselbstständige oder Festangestellte, die betriebliche Mitbestimmung muss für alle gelten. Doch schon jetzt gibt es Probleme, auch nur die Belegschaft eines Callcenters zu erreichen, wenn die Mehrzahl der Beschäftigten regelmäßig von zu Hause aus arbeitet. "Deshalb ist es unglaublich wichtig, dass wir auch Strukturen schaffen, die es uns ermöglichen, die Mitbestimmung durchzusetzen, selbst dann, wenn die Kolleginnen und Kollegen nicht in einem Unternehmen zusammenkommen", sagte Christian Szepan.

"Die Digitalisierung der Arbeitswelt stellt uns vor gravierende Herausforderungen", sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske. Doch sie eröffne auch Chancen. "Die Arbeit kann zeit- und ortsunabhängiger werden, Hierarchien können an Bedeutung verlieren." Doch solche möglichen Fortschritte würden sich keineswegs im Selbstlauf einstellen. Auch Kira Marrs sagte, sie müssten gestaltet werden, und zwar im Sinne der Menschen.

Die Arbeitsmenge gerecht verteilen

Fest steht, dass sich die Arbeitswelt durch Digitalisierung stark verändern wird. Bisher gut funktionierende Geschäftsmodelle würden radikal in Frage gestellt, Märkte vollkommen umgekrempelt, Fabriken digitalisiert und durch Wissensarbeit entstünden neue Produktionsmodelle, sagte Marrs. Frank Bsirske zitierte einen Bericht der Forschungsabteilung der ING-DiBa-Bank. Danach sind in Deutschland rund 18 Millionen Arbeitsplätze durch Digitalisierung gefährdet, besonders stark in Bereichen wie Büro und Sekretariat, Post- und Zustelldienste, Lagerwirtschaft sowie Handel.

Da die Digitalisierung in anderen Bereichen die Produktivität stark erhöhen wird, bieten sich aber auch neue Möglichkeiten. Die Gewinne daraus müssten zum einen für Qualifizierungsangebote genutzt werden, aber auch für die Förderung von sozialen Dienstleistungen, für wachsende Bedarfe an Bildung, Gesundheit und Pflege, für die Förderung von Integration und interkultureller Kompetenz, forderte Bsirske. Zugleich müsse die verfügbare Arbeitsmenge gerecht verteilt werden - und das biete Spielraum für Arbeitszeitverkürzung. Dazu hat der ver.di-Bundeskongress eine neue Debatte gefordert.

Die Vielzahl der Diskussionen und Aspekte machte deutlich, vor welch großem Umbruch Arbeitswelt und Gesellschaft stehen. "Sich diesem Strukturwandel zu verweigern wäre ein fataler Fehler", sagte der ver.di-Vorsitzende in seiner Grundsatzrede. ver.di werde sich um eine intelligente Regulierung digitaler Erwerbsarbeit bemühen. Dazu hat der Kongress mit der Annahme verschiedener Anträge vor allem im Sachgebiet E jetzt die Weichen gestellt.

Der Kongress zum Nachlesen

Alle Anträge, Bilder und Filme vom Kongressgeschehen, die Lebensläufe der Bundesvorstandsmitglieder sowie die Tagesprotokolle, in denen alle Debatten und Reden Wort für Wort nachgelesen werden können - all das findet sich im Internet unter www.verdi.de/ueber-uns/bundeskongress-2015