In Münster, Minden und anderen Städten mobilisieren Aktive gegen das Freihandelsabkommen

Schwungvolle Aktion in Minden: Tango gegen TTIP (anzuschauen auf www.verdi.de/verditv)

Der Bahnhof ist umzingelt: Fahrräder, wohin das Auge blickt. Münster in Westfalen ist die Fahrradstadt der Republik und auch sonst bunt und voller alternativer Phantasie. Nur ein paar hundert Meter weiter am Servatiiplatz drängen sich an diesem Juniwochenende die Menschen an den Ständen. Es ist Nachhaltigkeitstag. Einzelpersonen, Vereine, Verbände und Parteien demonstrieren ihre Programme und Ideen für nachhaltiges Wirtschaften. An ihnen zeigt sich gleichzeitig das Spektrum der Mitglieder der im September 2014 gegründeten Bürgerinitiative "Münster gegen TTIP".

Das Kürzel steht für das seit Juli 2013 verhandelte Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Bundesrepublik Deutschland. In Münster treffen sich die Mitglieder der Bürgerinitiative regelmäßig zweimal im Monat. Zum Nachhaltigkeitstag luden sie zu einer Filmvorführung ein. Vorgestellt werden drei Kurzfilme, die im Kino vor dem Hauptprogramm gezeigt wurden. Kunststudenten haben sie für die Initiative produziert. Sie wollen dem Publikum damit vermitteln, was TTIP ist. Einer der Filme macht deutlich, dass das Regelwerk von rund 14.000 Seiten abstrakt, komplex und für Laien wie Experten schwer verständlich ist, aber viele unzumutbare Dinge enthält, die das Leben aller Bürger beeinflussen werden.

Viel mehr als die Sache mit den Chlorhühnchen

Manche der Themen haben es in der Öffentlichkeit zu Popularität gebracht. Die Deutschen mögen weder genmanipulierte Lebensmittel noch mit Chlor behandelte Hähnchen. Einer der wichtigsten Kritikpunkte allerdings ist nicht, dass solche US-Importe in der Freihandelszone verkauft werden dürften, sondern vielmehr die Tatsache, dass Konzerne durch das Abkommen den Abbau sogenannter Handelshemmnisse in Europa einklagen könnten. Und das nicht etwa vor einem offiziellen internationalen Gerichtshof, sondern vor eigens eingesetzten privaten Schiedsgerichten. Und "Handelshemmnisse" können so ziemlich alles sein: Mindestlöhne, Umweltstandards, Arbeitszeiten und Arbeitsschutz.

Der 33-jährige Jörg Rostek kommt direkt von seinem Arbeitsplatz auf dem Münsteraner Wochenmarkt zum Nachhaltigkeitstag. Auf dem Markt verkauft er an einem Suppenstand. Zur Bürgerinitiative gegen TTIP ist er über die Organisation "Mehr Demokratie in NRW" gekommen, die Wahlen beobachtet und sich für Volks- und Bürgerentscheide einsetzt. Er hat sich schon während seines Studiums politisch engagiert. Das Studium brach er dann ab: "Die Politik hat mein Studium gefressen." Rostek ist einer der beiden Sprecher von "Münster gegen TTIP". Die Strukturen, erklärt er, seien locker, funktionierten ohne Vorstand. Beteiligen kann sich jede/r Interessierte. Gruppen und Einzelpersonen - alle seien willkommen: "Ich hätte auch nichts gegen einen Schützenverein." Bisher haben sie in der Stadt zwei Demonstrationen und zwei Aktionstage organisiert. Sie sammeln Unterschriften, verteilen Flyer und Informationsmaterial.

Was tun gegen die drohende Paralleljustiz

Die ehemalige Lehrerin Mechthild Könemann ist zur Bürgerinitiative gekommen, weil sie aus den Medien von den geplanten Schiedsgerichten erfahren hat. Sie sagt: "So etwas hatte ich vorher noch nie gehört. Ich bin regelrecht aus meinem Wolkenkuckucksnest gefallen!" Dass da eine "Paralleljustiz" etabliert werden soll, "das hat mir Angst gemacht".

Die Diskussionsrunde der Initiative am Nachhaltigkeitstag setzt die Hoffnung darauf, dass jede/r Einzelne sich damit auseinandersetzt, wie er oder sie individuell von TTIP betroffen ist. Das Abkommen, sagen die Aktiven, beträfe fast alle Lebensbereiche, den Kultursektor, Theater, Bibliotheken, Verlage, den Pflege- und Gesundheitssektor, die Betriebe der öffentlichen Daseinsvorsorge, den Verkehr. Einige Mitglieder sind täglich aktiv. Ute Schriver twittert regelmäßig, sie beantwortet Fragen, gibt Hinweise. Michael Beier findet, der gezeigte Kurzfilm bringe das Problem auf den Punkt. TTIP ist schwer zu erklären. Die Kunststudenten haben das Abkommen sinnlich erfahrbar gemacht und die 1400 Seiten Regelwerk als einen Berg Papier gestapelt, dessen Inhalt langsam, nach Stichworten sortiert an eine weiße Wand projiziert wird und eine Fülle von Regelungen in fast jedem Lebensbereich offenbart: Deregulierung der Arbeitssicherheit, Zugriff auf persönliche Daten, Tiermast, Privatisierung von Versorgungsbetrieben und vieles mehr.

Gertraude Trosien-Peisker sammelt Unterschriften gegen TTIP

In der Diskussion geht es auch um die Frage, warum TTIP in der Öffentlichkeit immer noch zu wenig wahrgenommen wird. Viele Menschen, so das Fazit, sind von der Themenfülle überfordert. Andere merken nicht, dass sie persönlich betroffen sein werden. Dass Agitation an Ständen und auf Straßen oft schwierig ist, wissen alle. Michael Beier sagt: "Man kann TTIP nicht in wenigen Minuten erklären." Damit werde man anderen nur lästig, vor allem, weil viele Passanten ganz anderes im Kopf hätten. Darum sei es eine gute Alternative, die kleinen Plakate mit Fragen zu TTIP wie "Was hat TTIP gegen Kultur?" immer mit sich herumzutragen, beim Einkaufen, im Theater, im Zoo, im Café. "Da stelle ich ein Plakat einfach auf den Stuhl neben mir." Er wolle Nachdenken hervorrufen und nicht "gegen andere Leute kämpfen. Ich bin nicht im Krieg". Wichtig sei es, Verbündete zu finden, zum Beispiel in Bioläden wegen der Kennzeichnungspflicht der Produkte, aber auch in Büchereien, Buchläden, Wasserwerken, in Krankenhäusern, Volkshochschulen, Verbraucherberatungen. Und auch, passend zur Parole der Bürgerinitiative "TTIP in die Tonne", bei der Müllabfuhr. "Das ist es", sagt er, "was mir an diesem Bündnis so gefällt. Es geht neue Wege".

Zur Großdemo am 10. Oktober in Berlin

Zurzeit mobilisiert auch die Münsteraner Initiative für die am 10. Oktober geplante Großdemonstration in Berlin. "Das könnte", hofft Rostek, "ein ganz großer Wurf werden". TTIP bedeute für Europa auch, dass da "zwei Kulturen aufeinandertreffen". Hier werde ein Medikament erst zugelassen, wenn seine Unschädlichkeit festgestellt sei, in den USA muss die Schädlichkeit nachgewiesen werden, das Risiko trägt der Verbraucher. "Es ist wichtig, den Leuten klarzumachen: Das wird sie betreffen." TTIP schwäche den Staat und untergrabe die Demokratie.

Die Aktiven in Münster sind sich einig, dass die Bewegung erst am Anfang steht und der Protest konkrete Bezüge zu den Menschen haben muss. Der ehemalige Banker Heinz-Peter Lorenz denkt zum Beispiel an die symbolische Sperrung einer Bushaltestelle, die wegen Unrentabilität wegfallen könnte, wenn Verkehrsbetriebe privatisiert würden. Er verweist auf andere große und kleine Städte, in denen die Parlamente sich mehrheitlich gegen TTIP ausgesprochen hätten. Er wisse natürlich, dass TTIP "nicht in Münster entschieden" werde. Es könne aber sehr wohl Wirkung haben, wenn viele Orte sich parteiübergreifend am Protest beteiligten.

Die Aktionsformen sind vielfältig. In Erlangen tanzte und radelte die Initiative durch die Stadt. Die Bürgermeisterin bekundete ihre Solidarität. Sie befürchtet Einschränkungen der kommunalen Selbstverwaltung. Die Bürgerinitiative in Minden liefert im Internet Druckvorlagen für T-Shirts. Im Mai funktionierte sie den Internationalen Tag der kulturellen Vielfalt zum Aktionstag gegen TTIP um. In der Fußgängerzone konnten die Passanten mit dem Brettspiel "Spiele und teile", einer Mischung aus Mensch-ärgere-Dich-nicht und Monopoly, spielerisch lernen. Schon im Januar hatte sich der Stadtrat zum großen Teil gegen TTIP ausgesprochen. Auch andere Städte in Nordrhein-Westfalen sind längst dabei, kleine wie Porta Westfalica, und große wie Köln.

Infos

  • TTIP: Transatlantic Trade and Investment Partnership, seit 2013 verhandeltes Freihandels- und Investitionsschutzabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union. Zusammen mit CETA, einem Abkommen mit Kanada, könnte es den größten Handelsraum der Welt bilden. Die Verhandlungen finden größtenteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
  • sEBI gegen TTIP: selbstorganisierte Europäische Bürgerinitiative mit über 300 Organisationen aus 18 EU-Ländern, die bereits knapp zwei Millionen Unterschriften gesammelt hat. Die Laufzeit der Aktion der Initiative beträgt ein Jahr. Ziel ist es, der EU-Kommission im Oktober 2015 zwei Millionen Unterschriften zu überreichen.
  • Bürgerinitiativen gegen TTIP: Zahlreiche Verbände, NGOs, Gewerkschaften, auch ver.di, Parteien und Einzelpersonen haben sich zu regionalen Aktionsbündnissen zusammengeschlossen. Jede/r kann sich daran beteiligen. Demonstration am 10. Oktober in Berlin.

www.muenster-gegen-ttip.de