Gesa und Ralf (*) knobeln an einem Beschwerdebrief. Genau diese Übung haben sie sich gewünscht. Gesa liest die Vorgabe, grübelt eine Weile, plötzlich schreibt sie los: "Sehr geehrte Damen und Herren, dieser Urlaub war nicht zu Toppen: Die ganze Woche war eine Katastrofe." Auch Ralf kommt in Schwung. Er stellt eine lange Mängelliste auf, und er verlangt vom Reiseveranstalter den vollen Preis zurück. "Kriegst du doch nie!", kommentiert Gesa. "Weiß ich auch", sagt Ralf und grinst. Er hat sich getraut, darum geht es: Er hat eine Maximalforderung gestellt - selbst formuliert und handschriftlich. Beide strahlen, als die Lehrerin sie lobt: "Tolle Briefe! Und die Rechtschreibung trainieren wir gleich."

Alphabetisierungskurs im Logistikzentrum der DHL Fashion Retail Operations GmbH in Mönchengladbach. Seit einem halben Jahr trifft sich die Gruppe zwei Stunden vor der Nachtschicht mit Lehrerin Iris Plehn im Verwaltungstrakt des Unternehmens. Später werden sie an den 57 Rampen der langgestreckten Halle Laster mit Kleidung der Marke Primark bestücken, sorgfältig geordnet nach den Bestellungen der Läden auf der jeweiligen Tour. Jetzt aber üben sie Lesen und Schreiben und lachen viel dabei: Lernen kann offenbar auch Spaß machen.

Ron (*) redet wie ein Wasserfall. Aber lesen? Steht da Stunden oder Studenten? Satz oder Zeit? Zaki (*) drückt sich gut aus. Doch der richtige Umgang mit zusammengesetzten Verben in den Übungsbeispielen macht ihm zu schaffen: "Sie fährt mit dem Auto heim." "Wir schlagen uns durch." Ron und Zaki haben sich Deutsch selbst beigebracht, so nebenbei. Das erste Mal befassen sie sich nun systematisch und unter Anleitung mit der Sprache. "Ich nutze die Gelegenheit gern", sagt Zaki. Seit 20 Jahren lebt er hier. Aber für einen Kurs hat es nie gereicht: "Kein Geld, keine Zeit, arbeiten müssen."

Probleme mit den Buchstaben

Erwachsenen-Alphabetisierung, das ist auf die Person zugeschnittener Unterricht; hier findet er im Betrieb statt. "Die Teilnehmenden haben unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten. Jeder braucht etwas anderes", sagt die Lehrerin Iris Plehn. Kleine Kursgruppen sind empfehlenswert.

Anfangs lernten sie bei DHL zu sechst. Doch zwei Kollegen mussten bald aussteigen - weil sie von ihrer Leiharbeitsfirma abgezogen wurden. Der DHL-Betriebsrat bot an: Kommt weiter zum Kurs! Aber Zeit und Ort passten nicht zur neuen Einsatzstelle. Das treibt Burkhard Wrede, den Betriebsratsvorsitzenden um: Da wollen welche lernen und haben praktisch keine Chance!

Der Alpha-Kurs im Logistikviertel Mönchengladbachs ist eine Besonderheit. Arbeit und Leben NRW, das Bildungsinstitut von DGB und VHS, konnte den Modellversuch noch bis Ende September aus Mitteln des Bundesbildungsministeriums finanzieren. Jetzt ist erst mal Schluss. Der DHL-Betriebsrat rechnet aber damit, dass es ab Januar einen neuen über Arbeit und Leben finanzierten Kurs geben wird. Eines jedoch steht fest: Die Firma übernimmt die Kosten nicht.

Ungewöhnlich an der Lerngruppe vor der Nachtschicht ist auch: Als Ariane Münchmeyer von Arbeit und Leben das Projekt Anfang des Jahres in der Betriebsversammlung vorstellte, meldeten sich sechs Leute spontan und öffentlich und gaben zu: Ich habe Probleme mit Buchstaben und Texten. Ich will daran was ändern.

Das ist unter den sogenannten funktionalen Analphabeten selten. Jede/r siebte der deutsch sprechenden Bevölkerung hierzulande im erwerbsfähigen Alter - zwischen 18 und 64 - gehört nach der Level-One-Studie der Uni Hamburg zu dieser Gruppe. Kennzeichen: Zu große Schwächen beim Lesen und Schreiben, um "am gesellschaftlichen Leben in angemessener Form teilzuhaben". Gut 60 Prozent der Betroffenen stehen (noch) in Lohn und Brot.

Doch selbst bei einfachen Jobs in Logistik oder Pflege, Produktion oder Reinigung nehmen Dokumentationspflichten zu. Es genügt nicht mehr, manuell geschickt, schnell und zuverlässig zu sein. Die meisten verheimlichen ihre ABC-Schwäche, verbergen die Defizite mit enormer Gedächtnisleistung, Einsatzbereitschaft und mit Tricks. Wie kann es so weit kommen, bei Menschen, die hierzulande die Schule besucht und oft sogar eine Ausbildung gemacht haben? Gesa beschreibt einen Teufelskreis, aus dem sie gerade selbst auszubrechen versucht: "Ich mag nicht lesen. Das war schon in der Schule so. Auch Rechtschreiben war furchtbar. Also habe ich beides vermieden. Und das, was ich konnte, wurde immer schlechter."

Erstaunliche Strategie

Im DHL-Logistikzentrum in Mönchengladbach mit rund 320 Beschäftigten haben sich längst nicht alle mit ABC-Schwächen geoutet. Die Betriebsräte kennen inzwischen sogar Teamleiter, die ständig komplizierte Tabellen auf dem Bildschirm ausfüllen, obwohl sie die Bedeutung der Spalten kaum verstehen. Ein fotografisches Gedächtnis hilft. "Es ist erstaunlich, welche Strategien die Leute entwickeln und wie gut sie ihr Problem kaschieren", sagt Burkhard Wrede. "Sie fallen nicht auf - solange sich nichts ändert an den Standardvorgaben."

Als der Betriebsrat vorfühlt, ob das Unternehmen den Alpha-Kurs ab Spätherbst weiterführen oder gar ausweiten will, heißt es: Die Beschäftigten erfüllen doch die Anforderungen. Kein Handlungsbedarf. Diese Haltung kennt Ariane Münchmeyer gut: "Viele Arbeitgeber winken bei der Erwachsenen-Alphabetisierung ab und sagen: Warum sollen wir für Versäumnisse des Bildungssystems zahlen?" Das ist irgendwie richtig - und doch zu kurz gedacht. Deshalb bleibt einem Betriebsrat, wie dem von DHL, nur ein Hebel: Er muss warten, bis das Unternehmen selbst die Absicht hat, beispielsweise die IT- und Englischkenntnisse der Belegschaft zu verbessern. Dann kann die Arbeitgebervertretung sagen: Wir sind dafür, wollen jedoch einen vorgeschalteten Kurs für die Kolleg/innen mit Lese- und Schreibproblemen. Tenor: Nur wenn die Basis stimmt, hat das Weiterlernen Sinn. Und macht vielleicht sogar Spaß.

Erwachsenen-Alphabetisierung im Betrieb ist ein mühsames, aber lohnendes Geschäft - für Lernende und Initiatoren gleichermaßen. Selbst wenn letztere nicht die Arbeitgeber sind. Gesa und Ralf, Ron und Zaki halten es ihrem Arbeitgeber dennoch zugute, dass er ihnen vor der Nachtschicht den Kurs ermöglicht. Obwohl die Firma unter dem Dach der Deutschen Post keinen eigenen Beitrag dazu leistet. Egal, allein die Lernchance fördert bei ihnen Loyalität und Arbeitsmotivation. Und auch Ariane Münchmeyer von Arbeit und Leben lässt sich nicht beirren. Unverdrossen glaubt sie, dass der bisherige Einsatz lohnend war, sich auch anderswo "Türen öffnen lassen über ein positives Beispiel, wie es der Kurs bei DHL ist."

(*) Alle Namen geändert.


Lesen und Schreiben lernen im Betrieb

  • Betriebsräte als Motor für Grundbildung und Alphabetisierung in der Arbeitswelt. Eine Handlungshilfe zur Sensibilisierung und Umsetzung. Arbeit und Leben NRW. Enthält Fallbeispiele und Muster-Betriebsvereinbarungen. Download: http://bit.ly/1Lj63rE, Druckversion über: muenchmeyer@aulnrw.de.
  • "Mento" bildet betriebliche Lernberater/innen aus: Mitmachen kann, wer betroffenen Kolleg/innen beistehen will. Kurse in sechs DGB-Bezirken. Mehr unter: www.dgb-mento.de
  • Alle Betriebsräte-Grundschulungen bei Arbeit und Leben in NRW enthalten Module zum Thema: Was kann ich für Kolleg/innen tun, die schwach im Lesen und Schreiben sind?
  • Mehr zum Thema: Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V., www.alphabetisierung.de
  • Erstberatung für Betroffene und Vertrauenspersonen: 0800/53 33 44 55, www.alfa-telefon.de
  • Kostenloses Lernportal des Volkshochschulverbands u.a. fürs Lesen, Schreiben und Rechnen, www.ich-will-lernen.de

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