Am Ende waren es 102 Menschen, die bei dem Attentat auf die Friedensdemonstration in Ankara am 10. Oktober getötet wurden. Um die Toten und Verletzten, die dem Terror der Islamisten zum Opfer fielen, wird getrauert, doch bei den Überlebenden des Friedensmarsches bleibt auch Angst zurück. Die Veranstalter, die linke kurdische Partei HDP und verschiedene Gewerkschaften, darunter die Dienstleistungsgewerkschaft KESK, sind geschockt. Lami Özgen, der Vorsitzende der KESK, sprach von einem "Massaker mitten in Ankara". Zwei Tage lang legten die Gewerkschafter aus Protest und Trauer die Arbeit nieder, doch der Terrorakt droht die Arbeit der Linken noch lange zu beeinträchtigen.

Als erste reagierte die Führung der HDP. Sie sagte alle Großveranstaltungen ab, die bis zur Wahl am 1. November geplant waren. "Wir können die Sicherheit unserer Anhänger nicht garantieren", sagte der Ko-Parteivorsitzende Selahattin Demirtas, "und die Polizei schützt uns nicht". Seitdem war der HDP-Wahlkampf eingeschränkt. "Wir konnten Leute nur noch in kleinem Kreis ansprechen, in Geschäften, auf der Straße, indem wir von Haus zu Haus gegangen sind", sagte der HDP-Kandidat für Antalya, Saruhan Oluc. "Zu größeren Veranstaltungen wollte aus Angst vor Attentaten kaum noch jemand kommen."

Verständlich, denn das Attentat in Ankara war nicht der einzige Angriff auf die HDP, auf sie unterstützende linke Gruppen und Gewerkschaften. Bereits in den Wochen davor waren landesweit über 100 HDP-Büros angegriffen und teils in Brand gesteckt worden - Ergebnis einer aufgeheizten nationalistischen Stimmung, die Präsident Erdogan und die amtierende AKP durch neuerliche gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK gezielt erzeugt hatten.

Die Polizei schaut nur zu

Diese Atmosphäre beeinträchtigt auch die Arbeit progressiver Gewerkschaften. So hatten sich die KESK und die innerhalb der KESK organisierte Lehrergewerkschaft Egetim-Sen in der Vergangenheit für die Rechte der kurdischen Minderheit auf Bildung und Unterricht in ihrer Muttersprache eingesetzt. Nach dem Gewaltausbruch zwischen PKK, Armee und Polizei, dem seit Ende Juni fast täglich Menschen zum Opfer fallen, wird das immer schwieriger. Wenn die Linke dann noch gezielt von Terroristen des "Islamischen Staats", IS, angegriffen wird, gegen die die Polizei bislang wenig getan hat, behindert das massiv alle politischen Aktionen. Mit dem Erdrutschsieg von Präsident Erdogan am 1. November wird sich die Lage für diese Gewerkschaften noch weiter verschlechtern. Die Linke wird lange brauchen, sich von diesen Schlägen zu erholen.

Erst wenige Tage vor der Wahl hatten die türkischen Sicherheitskräfte damit begonnen, Unterschlupfe von Mitgliedern oder Sympathisanten des IS in der Türkei zu durchsuchen und weitere potentielle Attentäter in Gewahrsam zu nehmen. Sowohl Selahattin Demirtas wie auch Lami Özgen warfen der Polizei und der Regierung vor, die islamischen Fundamentalisten lange bewusst in Ruhe gelassen zu haben. Ein berechtigter Vorwurf ist, wie der Terroranschlag von Ankara zeigte. Zumindest einer der beiden Selbstmordattentäter - wahrscheinlich sogar beide - gehörten zu einer IS-Zelle, die sich im osttürkischen Adiyaman vor zwei Jahren gebildet hatte. Eine Gruppe von jungen türkischen Muslimen wurde dort radikalisiert, einige von ihnen gingen über die Grenze nach Syrien und schlossen sich dem IS an.

Die Adiyaman-Gruppe wurde von der Polizei beobachtet - mehr nicht. Vor der Wahl im Juni dieses Jahres zündete dann einer der Angehörigen der Gruppe während der Abschlusskundgebung der HDP in Diyarbakir per Funk eine Bombe. Vier Menschen starben, etliche wurden verletzt. Der Attentäter wurde gefasst und als Mitglied der Adiyaman-IS-Zelle identifiziert. Trotzdem konnte wenig später, am 20. Juli, ein anderes Mitglied der Adiyaman-IS-Zelle, Abdurrahman Alagöz, in Suruc per Selbstmordattentat 33 Menschen töten, konnte sein Bruder Yunus Emre Alagöz am 10. Oktober in Ankara 102 Menschen in die Luft sprengen. Alle drei waren der Polizei vorher bekannt. Die Angst vor weiteren Attentaten ist deshalb nur zu berechtigt. Jürgen Gottschlich