Ein weißes T-Shirt, Rundhals, ein doppelter Gummibandabschluss am Ärmel, mehrere Platinen und Sensoren, Akku und Datenlocker wasserdicht verschlossen in der Seitentasche - fertig ist der Prototyp des smarten Arbeits-Shirts für Pflegekräfte. Das Tablet unten zeichnet alle Bewegungen auf. Und wenn's nicht passt, wird's passend gemacht

Christian Meixners Alltag ist ein Kraftakt. Er hilft alten Menschen, sich aufzurichten. Stützt sie beim Stehen. Hebt sie auf die Toilette, unter die Dusche, in den Sessel. Zwischendurch dokumentiert er die Arbeit, die er auf den Zimmern des Pflegeheims Mathildenhof in Nürnberg-Mögeldorf verrichtet hat. Er könnte ächzen unter dieser Last. Viele, die in der Altenpflege arbeiten, tun das. Sie leiden unter den körperlichen und seelischen Anstrengungen, die ihnen der Beruf zumutet. Aber Meixner ist erst 31 Jahre alt. Er beherrscht die nötigen rückenschonenden Hebelgriffe, treibt viel Sport und weiß, wie er sich am Abend entspannen kann. Außerdem vertraut er darauf, dass er seine Arbeit gut und richtig macht.

Vielleicht hat er darum gleich Interesse gezeigt, als Günter Beucker, Geschäftsführer des Evangelischen Gemeindevereins Nürnberg-Mögeldorf, vor vier Jahren "Dynasens" vorstellte, ein Forschungsprojekt des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen (IIS). Ein mit Sensoren gespicktes Arbeitshemd, erfuhr die Belegschaft, solle im Haus getestet werden.

Etwa 40 Prozent der Kollegen, sagt Christian Meixner, hätten das Projekt auf Anhieb abgelehnt. "Sie haben gedacht, man wolle sie ausspionieren." Andere waren gleichgültig. Er dagegen verstand zwar noch nicht genau, worum es ging. Aber seine Neugier war geweckt.

Platinen entlang der Wirbelsäule

Wie 14 andere Kollegen bekam er ein weißes T-Shirt, Rundhals, ein doppelter Gummibandabschluss am Ärmel. Es war ein bisschen eng, die Einnähungen drückten. Die Schrobenhausener Textilfirma Starringer, die seit 15 Jahren smarte Kleidung fertigt, besserte nach und der Prototyp passte. Das Shirt blieb auch bequem, als Knut Starringer unter dem verdeckten Reißverschluss entlang der Wirbelsäule mehrere Platinen setzte, auf denen Sensoren klebten. Vier weitere Sensoren wurden auf den Schultern befestigt, an der Seite steckten Akku und Datenlocker, verdeckt von einer Klappe mit wasserdichter Schicht. Weil man manchmal nass wird beim Duschen eines Patienten.

Meixner machte seine Arbeit. Ab und zu spähte er auf das Tablet, das im Flur auf dem Pflegewagen lag und aufzeichnete, was er tat. Bücken, Beugen, Drehen: Die Sensoren im Hemd erkannten die wesentlichen Bewegungen. Jede Drehung malte eine Kurve auf das Tablet, jedes Bücken, jede Aufrichtung. Am Ende stand da ein automatisiertes Bild des sogenannten "Transfers", des Positionswechsels, den Meixner am Patienten vorgenommen hatte.

Wozu das alles? Wo Meixner selbst doch ganz genau weiß, was er tut?

In der Projektbeschreibung wird versichert, "Dynasens" diene "der Verminderung physischer und psychischer Belastungen" der Pflegekräfte. Die smarte Dienstkleidung ermögliche, Fehlhaltungen bei pflegerischen Tätigkeiten zu identifizieren. Aufgrund der Daten könnten Trainingsvorschläge gemacht werden. Zugleich sollen die Sensoren im Hemd die Arbeit der Pfleger und Pflegerinnen automatisch dokumentieren. So bleibe mehr Zeit für das, was in der Altenpflege so wichtig ist: die Zuwendung zum Patienten.

"Wir wollen die Pflegekräfte entlasten", sagt auch Ronald Lehnert, Projektleiter "wearable solutions" (tragbare Lösungen) bei der Firma Starringer. "Dynasens soll ausschließlich der Pflegekraft helfen. Was ihr hilft, hilft auch dem Patienten. Denn der Druck auf Pflegekräfte ist exorbitant."

Meixner teilte und teilt die Ansichten des Dynasens-Forschungskonsortiums, begegnet aber auch vielen Skeptikern. Warum er sich kontrollieren lasse, hat man ihn auf der Internationalen Handwerksmesse in München gefragt. Dort stellte er im März das Projekt vor. Von "Spionage" sei die Rede gewesen. Er wurde gefragt, ob er sich nicht "beobachtet fühle".

Aber er fühlte sich nicht beobachtet. Im Gegenteil: "Alles, was die Pflege voranbringt, ist gut."

Hirschlederhose mit Handytastatur

Nicht Menschen, sondern "Wearables" - portable elektronische Elemente, die am Körper getragen werden - sollen die Pflege voranbringen? Immerhin: Der Verkauf boomt. Der TÜV Süd schätzt, dass 2019 weltweit 148 Millionen Wearables getragen werden.

Meistens befinden sich die winzigen elektronischen Geräte in Brillen, Armbändern oder Uhren. Es gibt sie in Ringen oder Kopfbändern, seltener auch in der Kleidung, wie im Fall der Pflegehemden im "Dynasens"-Projekt.

Schon vor 15 Jahren hat die Firma Starringer, im Auftrag des Münchener Halbleiterherstellers Infineon, ihr erstes smartes Kleidungsstück produziert: eine sämisch gegerbte Hirschlederhose, in deren Tasche eine Handytastatur integriert ist. Es gibt daumenkuppengroße Knöpfe zum Abheben, Telefonieren, Auflegen und Einstellen der Lautstärke. Allzeit und überall erreichbar, sobald man die Hosen an hat. Akku und MP3-Player befinden sich in einer hinteren, mit einem Trachtenmotiv verzierten Hosentasche. Das Handy kommt in ein Extrafach, die Kopfhörerkabel laufen die Träger hinauf. Starringer selbst trägt die Hose noch hin und wieder. Bis heute wurden über 240 Exemplare der echt bayerischen Lederhose vor allem nach Asien verkauft.

Knut Starringer, der in den väterlichen Handwerksbetrieb in einem Schrobenhauser Wohnhaus hineinwuchs, produziert zwar mit neun Mitarbeitern auf 300 Quadratmetern Grundfläche weiterhin ganz traditionell Lederjacken, Mode und Motorradkluft, ist aber bei smarter Kleidung ganz vorn mit dabei.

Die Branche wittert Morgenluft

Einmal trug er der bayerischen Polizei an, Wearables in die Uniform zu integrieren, um das Personal zu koordinieren. In einem Notfall hatte er beobachtet, dass die Polizei erst gar nicht kam, dann aber viel zu viele Polizisten am Ort eintrafen. Eine optimierte Einsatzplanung, dachte er, könnte da segensreich wirken. Aber er bekam es gleich mit der Polizeigewerkschaft zu tun. Der war das Tracking von Personen nicht recht. "Man wolle doch nicht preisgeben, wer wo wann seine Leberkässemmel esse, hat man mir gesagt."

Heute lacht Starringer darüber. Wer ganz vorn mitschwimmt, lernt aus Fehlern. Die Schrobenhausener lernen bis heute. Sie haben schon für BMW produziert und für die Bundeswehr. Er habe aber auch einige Aufträge des Militärs abgelehnt, sagt Starringer, "jemandem körperlich Schaden zuzufügen, passt nicht zu unserer Firmenphilosophie".

Insgesamt 80 Prototypen des Pflegehemdes hat er in der ersten, dreijährigen Forschungsphase entwickelt. Als die Pfleger sich darüber beschwerten, von den Sensoren dauergetrackt, also in ihrer Bewegung erfasst zu werden, ermöglichte es Starringer dem Personal, die Sensoren von den Akkus zu trennen. Künftig könnte sich das Gerät beim Betreten eines Raums von selbst einschalten und ausschalten, wenn die Pflegekraft ihn wieder verlässt. Ständig verändert sich etwas am Produkt. Sogar den Einsatzbereich hat man verschoben: Weg von der ambulanten Pflege, hin zur stationären Einrichtung.

Einmalig ist das Projekt nicht: Das Deutsche Forschungszentrum für künstliche Intelligenz, DFKI, forscht derzeit an einem mit Sensoren gespickten Anzug, der Bewegungsabläufe bei der Arbeit erkennt. Die Daten werden mit optimierten Mustern verglichen. Im Ergebnis meldet der Anzug, ob sich der Arbeitnehmer richtig bewegt.

Die ganze Branche wittert derzeit Morgenluft. Die Systeme wurden in den vergangenen Jahren kleiner und kleiner. Zur Zeit sind Wearables vor allem als Lifestyleprodukte unterwegs, messen Puls und Atmung, zählen Schritte. Immer häufiger werden sie aber nicht nur privat, sondern auch beruflich eingesetzt. Zum Teil soll das der Sicherheit dienen: Lastwagenfahrer etwa in Hunter Valley, Australien, tragen "SmartCaps". Sie sehen aus wie ganz normale Baseballkappen. Verraten Herzschlag und Atemfrequenz den eingenähten Sensoren, dass sich der Fahrer einem Nickerchen nähert, warnt ihn ein Ton.

Andere, vor allem in sogenannten High-Risk-Berufen eingesetzte Wearables, erweitern das Wahrnehmungsspektrum: In Brillen eingebaut filmen sie das, was der Träger sieht - und erlauben es einem Techniker oder Manager, zeitgleich mitzusehen und mit dem Träger zu kommunizieren.

Der Online-Versandhändler Amazon dagegen setzt auf Effizienz. Es trackt sowohl seine Beschäftigten, als auch die Ware im Regal. So werden Wege verkürzt und Mensch und Ware schnellstmöglich zusammengebracht. Auch Mitarbeiter der britischen Supermarktkette Tesco erhalten smarte Armbänder. So überprüft die Firmenleitung, wie viel und wie schnell gearbeitet wird.

Die Entwicklung scheint unausweichlich: Wearables dringen in den Berufsalltag ein, sitzen am Körper, in den Kleidern, hin und wieder sogar schon unter der Haut. Man kann das ganz unaufgeregt begleiten, wie Günter Beucker von der Diakonie, der sich für seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von den T-Shirts "eine kleine Entlastung" verspricht, zugleich aber ganz klar darauf verweist, dass auch das klügste Smartshirt die eigentlichen Probleme nicht lösen könnte: den Mangel an Geld und an Personal. "Mal mit einem Bewohner einen Geburtstag feiern. Oder in die Stadt gehen. Oder einen Facharzt aufsuchen. Welche ältere Dame wird denn noch zum Frauenarzt gebracht?" Ganz normal sei das - aber derzeit nicht leistbar. "Wir brauchen mehr Personal", sagt Beucker, "nicht mehr Überwachung."

Misstrauen ist gut

Man kann auch etwas skeptischer sein, wie ein Insider der Branche, der namentlich nicht genannt werden will. Er findet, Sensortechnik in der Pflege sei "grundsätzlich eine gute Sache". Wer ein Gerät trage, das ihn auf Fehlhaltungen hinweise, könne innerhalb kürzester Zeit lernen, sich richtig zu halten, um so Rückenbeschwerden vorbzueugen. Probleme entstünden dann, wenn das Gerät nicht nur ein persönliches Feedback gibt, sondern die Daten an anderer Stelle sammle. "Muss der Chef wissen, ob ich mich falsch bewege? Nein!" Darum sei "ein anständiges Datenschutzkonzept" entscheidend. "Niemand baut da etwas auf und will etwas Böses. Aber man darf die Möglichkeit des Missbrauchs gar nicht erst schaffen." Innerhalb eines solchen Konzepts müsste eine externe Firma die Daten auslesen, nicht der Chef. "Misstrauen ist gut, die Gefahr ist da. Man muss Alarm schlagen."

Eine Warnung, die bei Starringer und seinen Projektpartnern offene Türen einrennt. "Jedes Datenerfassungssystem kann missbraucht werden", sagt Lehnert. Bei "Dynasens" blieben die Daten im Haus und würden anonymisiert. "Grundsätzlich wird aber immer Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein müssen, was mit den Daten geschieht." Da gibt es viel zu tun für die Betriebsräte, die sich mit solchen Fragen herumschlagen müssen.

Man kann aber auch gleich noch grundsätzlicher werden und schlicht und einfach ablehnen, Hemden wie diese überhaupt einzuführen. Wie Uwe Ostendorff, bei ver.di zuständig für Krankenhäuser und die Koordination der Servicebereiche, der sagt: "Man sollte grundsätzlich die Finger davon lassen!" Seine Begründung: Das T-Shirt erhebe Daten, "die man gar nicht braucht". Die hergestellte Datenflut sei "völlig überzogen" und bringe keinerlei besonderen Nutzen für die Beschäftigten. "Das ist kein Hilfsmittel, es hilft niemandem". Bereits heute könne man mit Hilfe eines Tablets und einer guten Software das Dokumentieren beschleunigen, "die Arbeitsschritte sind aufgelistet, man muss nur noch ein Häkchen setzen".

Die einseitigen Belastungen, denen die Pflegekräfte ausgesetzt sind, seien in vielen Studien untersucht worden und allgemein bekannt. Kurse zur Prävention gebe es genug. "Es bedarf keiner Software, die Fehlhaltungen akribisch nachweist." Auch für ihn wiegt die Gefahr schwer, dass die Daten zur Leistungskontrolle genutzt würden. "Wenn Daten erhoben werden, kann Missbrauch geschehen." Mehrfach seien in- zwischen Krankenhauskonzerne gehackt worden. "Warum sollte das nicht auch in Pflegekonzernen passieren?"

Aber vielleicht lohnt es gar nicht, sich über "Dynasens" zu ereifern. Ostendorff jedenfalls bezweifelt stark, dass das beforschte T-Shirt jemals auf dem Markt ankommt. Die Arbeitgeber in der Pflegebranche könnten zwar, sollte der Datenschutz versagen, durch "Dynasens" sogenannte Low- von Highperformern unterscheiden, hätten darüber hinaus aber kaum Vorteile - der Markt an Altenpflegern sei ohnehin leergefegt. Warum also in High-Tech investieren? Wo man sich noch nicht mal neue Krankenbetten leisten kann? Und viel zu wenig Geld für Pflegekräfte da ist?

Fruchtbarer scheint es da, Geld in die Robotik zu stecken. Dass irgendwann Roboter die Arbeit übernehmen, an der sich bislang noch Menschen den Rücken kaputt machen, ist zwar eine fragwürdige Vorstellung. Aber vermutlich realistisch. Bis dahin allerdings ist es noch eine Weile hin.

Das "Dynasens"-Projekt geht derweil in die nächste Runde. Eine passgenaue Software soll entwickelt, die Sensorik im T-Shirt noch feiner werden. Testphase zwei ist bereits bewilligt.

"Man wolle doch nicht preisgeben, wer wo wann seine Leberkässemmel esse, hat man mir gesagt"