Die eine kommt, die andere geht: Angelika Kappe (links) und Sibylle Lust

Mit einem deutlichen Vertrauensvorschuss hat eine außerordentliche Landeskonferenz von ver.di Hessen Anfang Juni Angelika Kappe ausgestattet: 96 Prozent der Delegierten wählten die Gewerkschaftssekretärin Anfang Juni im Frankfurter Gewerkschaftshaus zur neuen stellvertretenden Landesbezirksleiterin und damit zur Nachfolgerin von Sibylle Lust, die nach zehn Jahren in dieser Funktion in den Ruhestand geht. Das Votum der Konferenz ist ein starker und freundlicher Rückhalt für die neue Dritte im Bunde der Landesbezirksleitung. Zudem hat Angelika Kappe zunächst noch die Unterstützung der scheidenden Vize-Landesbezirksleiterin und findet ein gut bestelltes Feld vor: ver.di Hessen verzeichnet steigende Mitgliederzahlen.

Von der Zuschneiderin an die Spitze

Angelika Kappe startete ihren beruflichen Werdegang in Niedersachsen: als Zuschneiderin in einer Kleiderfabrik. Nach vier Jahren trat sie in die Gewerkschaft ein. Im Betrieb wurde sie Vertrauensfrau und zur stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gewählt.

Als der Betrieb in Konkurs ging, bildete sie sich an der Sozialakademie in Dortmund weiter, wurde Organisationssekretärin beim DGB in Eschwege, wechselte in die Kreisverwaltung der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) in Bad Hersfeld und blieb dort auch nach der Gründung von ver.di. In den letzten zehn Jahren war Angelika Kappe zuständig für zwei ver.di-Bezirke, nämlich Osthessen und Hanau; rund 20.000 Mitglieder erlebten sie als Koordinatorin in der Tarifpolitik, als hauptamtliche Vertrauensfrau in Gewerkschaftsfragen vor Ort.

Kritisch, teamfähig, effizient

Bei der außerordentlichen Landeskonferenz stellte sich die Gewerkschafterin den 81 hessischen Delegierten als kritisch, teamfähig und effizient arbeitend vor. Diese Eigenschaften werden nützlich sein, wenn sie sich schwerpunktmäßig um Finanzen kümmert. Die tarifpolitischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre hätten gezeigt, so die neue Vize-Landesbezirksleiterin, dass die Mittel für den Streikfonds erhöht werden müssten. Aber: "Auch in Zeiten, in denen die Mittel umverteilt werden, geht es solidarisch zu", betont Angelika Kappe. Die vereinbarten gewerkschaftlichen Kampagnen und die sonstigen vielfältigen Aufgaben würden realisiert, kein Bereich und keine Personengruppe müsse sich Sorgen machen, denn die neue Budgetierungsrichtlinie werde mit ehrenamtlicher und hauptamtlicher Beteiligung erarbeitet und anschließend vom Gewerkschaftsrat beschlossen, dem höchsten ehrenamtlichen Gremium in ver.di.

Zu den künftigen Aufgaben von Angelika Kappe zählt auch die landesweite Vertrauensleutearbeit: "Die betrieblichen Vertrauensleute sind die Expertinnen und Experten, wenn es um betriebliche Probleme geht. Gemeinsam Lösungsstrategien zu erarbeiten und voneinander zu lernen, das sind die Grundlagen gewerkschaftlicher Arbeit. Solidarität und Zusammenhalt werden vor Ort gelebt", so die Gewerkschafterin. Weitere Aufgaben, denen sich Kappe widmen will, sind die Arbeitsmarkt- und die Sozialpolitik sowie die Frauengleichstellung.

Rente wird zu einem zentralen Thema

Den gewerkschaftspolitischen Überblickverschaffte auf der Konferenz der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Bsirske. Er skizzierte die gewerkschaftlichen Vorhaben der kommenden Monate. Vor allem zwei Themen waren Bsirske in seiner Rede besonders wichtig: Zum einen will ver.di - schon mit Blick auf die Bundestagswahl 2017 - das Thema Rente ins Zentrum des politischen Diskurses rücken. Zehn bis zwölf Millionen Menschen könnten, so Frank Bsirske, in den kommenden Jahren in die Lage geraten, dass - nach Jahrzehnten fleißiger, ausdauernder und abhängiger Arbeit - ihr Lebensabend nur ein bescheidener wird, weil die Rente hinten und vorne nicht reicht.

Frank Bsirske im Gespräch mit Jürgen Bothner, Landesleiter ver.di Hessen

Wer 40 Jahre ein Bruttoeinkommen von 2.500 Euro erarbeitet habe, blicke auf eine Rente zwischen 700 und 800 Euro, so der ver.di-Vorsitzende. Das bedeute Altersarmut. Die Dramatik der Lage werde aber noch klarer, wenn man bedenke, dass ein Drittel der Arbeitneh-mer/innen weniger als 2.500 Euro verdiene, fuhr Bsirske fort. Das sei eine Herausforderung für die Gewerkschaften, die sich unter Umständen zu einer "sozialen Bombe" entwickeln könne. Denn hinzu komme, dass auch die betrieblichen Renten unter Druck geraten.

Frank Bsirske bezeichnete das Renten-Thema als ein gesellschaftspolitisches: "Mit Generationenkonflikt hat das nichts zu tun." Denn es komme darauf an, dass jeder, der Alte wie die Junge, sein Leben planen könne. Die Gewerkschaften hätten mit dem Mindestlohn, an dem man gleichwohl noch weiter arbeiten müsse, gezeigt, wie sie schwierige Themen sozial stemmen können, die aber nicht nur im öffentlichen Raum, sondern zum Beispiel auch auf Betriebsversammlungen und im Freundeskreis diskutiert werden müssten. Ein politischer Kurswechsel bei der Rente sei unumgänglich.

Handelsabkommen ohne Transparenz

Die zweite große Herausforderung für die Gewerkschaften seien aktuell die geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU einerseits und den USA sowie Kanada andererseits. Hier könne von Transparenz keine Rede sein, obwohl negative Auswirkungen auf die Beschäftigten und bis in die Entscheidungsfreiheit der kommunalen Selbstverwaltung hinein zu befürchten seien. So könnten Privatisierungen aufgrund von zementierten Regelungen irreversibel sein - ohne Zustimmung der gewählten Parlamente. Auch bei diesem Thema wird ver.di in der ersten Reihe stehen. "Auf alle Fälle muss der öffentliche Dienst in solchen Abkommen tabu sein", so Bsirske.