Ausgabe 05/2016
Ran ans Werk
Felix van de Kraan (li.) und Marius Gronau bei ihrer Arbeit. Auf dem Nordfriedhof in Wolfsburg machen sie ihre Ausbildung, Betriebsleiter Bernd Werthmann, zeigt, was zu machen ist
Wenn es Felix van de Kraan bei seiner Arbeit am Wolfsburger Nordfriedhof mal zu viel wird, setzt sich der 20-Jährige gerne für ein paar Minuten auf die Bank vors Betriebsgebäude. Dort hat Bernd Werthmann, Betriebsleiter der Wolfsburger Friedhöfe, ihn schon oft sitzen sehen. Und immer wenn er vorbeigeht, fragt er: "Na, Felix, wie geht's?" Die Antworten kamen zu Beginn der Ausbildung oft nur leise, ohne Blickkontakt. Bis Bernd Werthmann ungefähr ein dreiviertel Jahr später einmal ganz in Gedanken grußlos an Felix vorbei ging. Dann hörte er ein deutliches: "Hallo Herr Werthmann! Wie geht's?"
Über die Entwicklung des 20-jährigen Auszubildenden mit den hellblonden Haaren freut sich Werthmann. Dass Felix dort auf der Bank sitzt, ist nicht selbstverständlich. Der junge Mann hat Asperger Autismus. Das Jobcenter hielt ihn damit für nicht tauglich für den ersten Arbeitsmarkt, stattdessen wollte es ihn nach der Schule in eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme vermitteln, wahlweise im Südharz oder an der Ostsee, jedenfalls deutlich mehr als 100 Kilometer von Wolfsburg entfernt. Für Felix' Mutter kam das überhaupt nicht in Frage.
Seit der Diagnose Asperger Autismus vor zehn Jahren hat die blonde, großgewachsene Frau alles dafür getan, dass Felix ein Leben so normal und so selbstständig wie möglich führen kann, auch wenn sie weiß, dass er sein Leben nie ganz alleine meistern wird. Aber sie sieht in ihm auch den jungen Mann, der Leichtathletik macht, gerne backt und sich für Tiere und Pflanzen interessiert. Deswegen hat Anja van de Kraan mit ihrem Arbeitgeber ausgehandelt, dass sie den halben Arbeitstag von zu Hause aus arbeiten kann. Sie fährt ihren Sohn, begleitet ihn in den ersten Berufsschulmonaten und organisiert für die neue Klasse eine Stunde, in der sie alles über Asperger Autismus erfahren und erfragen können, um Felix besser zu verstehen.
Ihr helfen die Kontakte, die sie im Laufe der Zeit aufgebaut hat. Auch die wären im Harz oder an der Ostsee weg gewesen, Felix auf sich allein gestellt. "Bei einem Gespräch mit der Agentur haben wir dies auch angesprochen. Es wurde nur gesagt, so etwas habe keine Priorität", erinnert sich die Mutter.
Unterstützung fand sie hingegen bei Bernd Werthmann und Lucie Pötter-Brandt von der Gesamtschwerbehindertenvertretung der Stadt Wolfsburg. Die Chance für Anja van de Kraans Sohn auf dem ersten Arbeitsmarkt lag in der Ausbildung zum Werker auf dem Friedhof, in ruhiger Atmosphäre, draußen im Grünen.
Asperger Autismus bedeutet, dass Felix langsamer ist in der Umsetzung und beim Verstehen. Komplexe Anforderungen sind nichts für ihn, sie sollten einfach formuliert, klar strukturiert sein und nicht zu viele Schritte auf einmal beinhalten. Mimik und Gestik von anderen kann er schwer verstehen. Auch Ironie ist ihm oft fremd, Witze und Frotzeleien unter Arbeitskollegen werden ihm schon mal zu viel. Dann geht er raus auf die kleine Bank neben dem Eingang des weißen Gebäudes.
Trotzdem war es für Betriebsleiter Bernd Werthmann sofort nach Felix' Praktikum klar, dass er dem jungen Mann 2013 eine Ausbildung anbieten würde. Als Werker, einer abgespeckten Ausbildung zum Friedhofsgärtner, bei der mehr Wert auf die Praxis gelegt wird. "Ich habe das Potenzial bei Felix gesehen", sagt er. Er beschreibt ihn als sehr zuverlässig, ehrgeizig, als jemanden, der mit absolutem Interesse bei der Sache ist. Gemeinsam mit dem Ausbilder Andreas Brakel hat er selbst eine sonderpädagogische Zusatzausbildung gemacht, 100 Stunden, teilweise in seiner Freizeit.
Wenn er Felix heute sieht, fühlt er sich bestätigt. Der junge Mann sei offener geworden seit er hier arbeitet, selbstbewusster, sagen die, die ihn schon länger kennen. "Ich freue mich, wenn ich was zu tun habe", sagt Felix, egal ob er Rasen schneidet oder an einem Kriegsgrab Efeu nachpflanzt, so wie an diesem Morgen. Er ist im Team anerkannt, hat Freunde gefunden, wie seinen Mit-Azubi, den angehenden Friedhofsgärtner Marius Gronau. Sieht man die beiden Männer auf dem Friedhof, ist es ein völlig alltägliches Bild junger Arbeiter. Beide tragen ihre grünen Arbeitsklamotten, arbeiten eifrig mit ihren Geräten in der Grünanlage, reden, lachen.
Lucie Pötter-Brandt, Gesamtschwerbehindertenvertreterin der Stadt Wolfsburg
Mittlerweile arbeitet ein weiterer schwerbehinderter Auszubildender bei den Wolfsburger Friedhöfen, ein dritter wird im Sommer anfangen. Und die können nicht einfach nebenbei mit durchgezogen werden, sagt Bernd Werthmann. Er sei schließlich den Steuer- und Gebührenzahlenden gegenüber verantwortlich, also müssen alle, die in diesem Betrieb arbeiten, auch ihre Leistung bringen. Jeder lerne und arbeite anders, egal ob behindert oder nicht.
Jeder Fall braucht eine individuelle Lösung
Insgesamt arbeiten bei der Stadt Wolfsburg derzeit 169 Auszubildende in 19 verschiedenen Berufen, hinzu kommt noch die Krankenpflegeschule. Sechs von ihnen sind schwerbehindert, drei gleichgestellt, das macht eine Quote von 5,32 Prozent. Bundesweit waren 2013 gerade einmal 0,5 Prozent der Auszubildenden in der dualen Ausbildung schwerbehindert. Im Jahr 2000 machte die Gesamtschwerbehindertenvertretung der Stadt Wolfsburg die Ausbildung zu einem der Arbeitsschwerpunkte. Zwei Jahre später wurde eine Integrationsvereinbarung unterschrieben, auf die sich alle noch heute berufen.
Seit mehr als 25 Jahren ist Lucie Pötter-Brandt hauptberuflich in der Schwerbehindertenvertretung der Stadt aktiv, im kommenden Jahr geht sie in den Ruhestand. Sie ist eine pragmatische Frau, die weiß, dass jeder Fall eine individuelle Lösung braucht, die auch gefunden werden kann.
In ihrem Büro hat sie die entsprechenden Materialien, weiß auf viele Fragen gleich, wonach sie suchen muss. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen helfen ihr, aber sie hat sich auch die Neugier erhalten, jeden Fall für sich zu betrachten. Denn Behinderung ist längst nicht gleich Behinderung. "Man muss sich darauf einlassen und gemeinsam gucken", sagt sie. Sie redet lieber erst einmal mit den Betroffenen, bevor sie Fachberater kontaktiert. "Lasst uns einfach schauen, wie es geht, dass es geht", ist ihre Maxime. Und Unterstützung durch engagierte Eltern wie Anja van de Kraan sei für sie dabei Gold wert.
Wichtig sind für Pötter-Brandt aber auch ihre Netzwerke. So ist es für sie selbstverständlich, Mitglied des Personalrats zu sein. Die gelernte Sozialpädagogin arbeitet eng mit den sechs Schwerbehindertenvertretungen der verschiedenen Bereiche der Stadt Wolfsburg zusammen, ist für alle ansprechbar. Sie hat ihre Drähte in alle Bereiche der Stadt, um für ihr Anliegen zu werben, aber auch, um Ideen zu bekommen, was möglich sein könnte. Und sie hat viele Kontakte zu Fachleuten außerhalb der Verwaltung, weiß, wofür es Fördermittel gibt und wo sie sich weiteres Fachwissen holen kann.
Auch bei ver.di ist sie im Bundesarbeitskreis Behindertenpolitik aktiv. Seine Mitglieder geben einer dualen Ausbildung, also mit betrieblichen und schulischen Anteilen, in Betrieben und Verwaltungen ebenfalls den Vorrang, denn damit seien die Chancen für den Berufseinstieg deutlich größer.
Nur das Arbeitsamt sah ein Problem
Bei der Stadt Wolfsburg werden pro Jahr im Schnitt zwei schwerbehinderte Auszubildende eingestellt, in unterschiedlichen Berufen, mit unterschiedlichen Behinderungen. Zu den ersten zählte Manuela Fricke. Die heute 33-jährige junge Frau mit Kurzhaarschnitt ist stark sehbehindert, trotz starker Brille sieht sie alles nur unscharf. Solange ihr in der Schule die Aufgaben mündlich gestellt wurden, wusste sie die Antworten, musste sie sie selber lesen, scheiterte sie. Ihre Sehbehinderung fiel erst nach einigen Schuljahren auf. Dennoch hat sie durchgehend Regelschulen besucht. Als ihr Sehvermögen mit dem 12. Lebensjahr noch einmal stark nachließ, sorgte ein Sehbehindertenpädagoge dafür, dass sie Hilfsmittel wie ein Lesegerät und einen Computer mit Sprachausgabe bekam.
In der Schule haben ihr Mitschüler/innen und Lehrer/innen geholfen, wenn es darum ging, etwas abzuschreiben oder zu lesen. Zu Hause sprang ihr Bruder ein. So verbrachte sie eine normale Kindheit, spielte Flöte und Keyboard, machte Leistungssport. Startete bei der Staffel als Erste, markierte sich den Balken beim Weitsprung mit roten Aufklebern.
Manuela Fricke hat eine sehr starke Sehbehinderung. Mit den richtigen Hilfsmitteln wickelt sie heute die Schäden des städtischen Fuhrparks ab
Zum Problem macht die Sehbehinderung erst das Arbeitsamt, wie die heutige Agentur für Arbeit Ende der 90er Jahre noch hieß. Ein Praktikum sei für sie nicht möglich, beschied es, als die Schüler/innen im 9. Schuljahr drei Wochen lang den beruflichen Alltag kennenlernen sollen. Auch bei der Ausbildungsplatzsuche muss sie auf Unterstützung durch das Arbeitsamt verzichten. Ein Sachbearbeiter sagt der Mutter, eine normale Ausbildung sei für die Tochter nicht möglich, überhaupt müsse erst einmal deren Eignung getestet werden.
Also fragt die Mutter bei der Gesamtschwerbehindertenvertretung der Stadt Wolfsburg an, wo Manuela nach erfolgreichen Einstellungstests und Gesprächen im Sommer 2000 ihre Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten beginnen kann. Dass die Gesamtschwerbehindertenvertretung ihre Ausbildung begleitet, vermittelt ihr das Gefühl, nie alleine zu sein. "Auftauchende Probleme wurden angegangen und nicht als Hindernis gesehen", sagt Manuela Fricke.
Heute kümmert sie sich nach mehreren Stationen in verschiedenen Abteilungen um die Versicherungen für den städtischen Fuhrpark und wickelt dessen Schäden ab. Auffällig sind an ihrem Schreibtisch nur die großen Bildschirme und das Lesegerät. An der Wand hängen Fotos von ihren Hunden, private Bilder, wie bei ihren Kolleg/innen, die im selben Raum arbeiten, auch. "Meine Behinderung fällt kaum auf. Sie wird vergessen, und das ist auch gut so", sagt sie. Deswegen verzichtet sie auch darauf, eine gelbe Brosche mit den drei schwarzen Punkten zu tragen. Sie will kein Opfer sein, will nicht, dass in der dritten Person über sie geredet wird, wie sie es schon beim Einkaufen erlebt hat.
Braucht sie Hilfe, organisiert sie sie sich. So fettet der Werkstattleiter bestimmte Angaben in seinen Schreiben, damit Manuela Fricke schneller erkennt, welche Stelle sie unter ihr Lesegerät legen muss. Sie arbeitet auf einer 75-Prozent-Stelle, nachdem sie festgestellt hat, dass sie von zu langer Arbeit am Bildschirm starke Kopfschmerzen bekommt. Und mit der Vertrauensarbeitszeit kann sie früher gehen, wenn es ihr mal nicht so gut geht. Dafür arbeitet sie an anderen Tagen länger. So fallen kaum Krankheitstage an, sagt sie und schmunzelt. Das sei wieder so ein Vorurteil, dem schwerbehinderte Arbeitnehmer/innen ausgesetzt sind.
Manuela Fricke hat sich ein Umfeld geschaffen, in dem sie alleine leben und den Alltag bewältigen kann. Sie hat ein Haus mit Garten, ihre Hunde, reitet, reist gerne, macht Tai Chi - und steht dank ihrer Arbeit auch finanziell auf eigenen Füßen.
Immer eine Chance, sich zu bewähren
Bei Anna-Lena Goertz, Mitglied des Teams der Ausbildungsleitung in der Abteilung für Personalentwicklung der Stadt Wolfsburg, treffen die Bewerbungen auch der schwerbehinderten Jugendlichen ein. Allerdings offenbaren sich längst nicht alle von vornherein. Angst vor Vorbehalten scheint es immer noch zu geben. Wer die Schwerbehinderung mit angibt, bekommt in jedem Fall die Chance, sich bei den Auswahltests zu bewähren, wenn nötig auch mit Hilfen wie mehr Zeit für die Aufgaben oder einem eigenen Prüfungsraum für mehr Ruhe. Es handelt sich um einen sogenannten Nachteilsausgleich, der auch für alle Prüfungen beantragt werden kann. Die Ergebnisse unterscheiden sich nicht von denen Nichtbehinderter, gute wie schlechte gibt es überall.
Fabian Celesti beantwortet in der Telefonzentrale erste Fragen und vermittelt
Nicola Lenz, die Leiterin der Abteilung Personalentwicklung, hat festgestellt, dass die Ausbildung Schwerbehinderter und deren anschließende Weiterbeschäftigung mittlerweile Normalität in der Stadtverwaltung geworden ist. Es werden die Kompetenzen der Jugendlichen gesehen, nicht deren Beeinträchtigungen. Die vielen positiven Beispiele hätten gezeigt, dass es funktioniere - und für viele Abteilungsleiter sei die Ausbildung mittlerweile ein persönliches Anliegen geworden.
Unterstützt wird es auch von der obersten Ebene der Stadt. Der derzeitige Oberbürgermeister Klaus Mohrs, SPD, hat vor 15 Jahren die Integrationsvereinbarung mit ausgehandelt und 2002 unterschrieben. Damals war er für das Personal der Stadt verantwortlich. Noch heute steht er voll hinter der Vereinbarung. Trotz der wegen der VW-Krise wirtschaftlich angespannten Haushaltslage werde an der Ausbildung höchstens dort gespart, wo die Stadt weit über ihren Bedarf hinaus ausbilde. Mohrs bezeichnet die Ausbildung von Schwerbehinderten als "gelebte Inklusion". Die sei für alle vorteilhaft - auch für diejenigen, die im Laufe ihres Lebens durch Krankheiten beeinträchtigt werden. Als Oberbürgermeister fühle er sich nicht nur für die Verwaltung verantwortlich, sondern auch für die Menschen, die in Wolfsburg leben, für Behinderte wie Nichtbehinderte. Und das solle sich auch bei den Beschäftigten widerspiegeln.
Für jede Eins ein Steak
Auch Fabian Celesti profitiert davon, dass die Stadtverwaltung räumlich behindertengerecht ausgestattet ist. So kann der Rollstuhlfahrer seinen Arbeitsplatz problemlos erreichen. Er arbeitet im Service-Center, so heißt die städtische Telefonzentrale, in der alle Anrufe zur zentralen Rufnummer der Stadt eingehen. Er beantwortet erste Fragen, vermittelt die richtigen Ansprechpartner und Termine. Und nur, wer genau hinschaut, sieht, dass sich sein Schreibtisch noch ein paar Zentimeter tiefer stellen lässt als die seiner Kolleg/innen. "Es ist völlig selbstverständlich für mich, hier zu arbeiten", sagt der 24-Jährige, dessen Querschnittslähmung angeboren ist. Und für seine Kolleg/innen mittlerweile auch. Zwar rollt er mit seinem Rollstuhl über die langen Büroflure, doch ist das für ihn eher ein optischer Unterschied. Daher rät er allen, die die Chance haben, eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu machen, sie auch zu nutzen. Probleme, die man sich vorher ausmale, seien im Alltag oft kleiner als gedacht und lösbar.
Auch Felix nutzt auf dem Nordfriedhof seine Chance. In seiner Berufsschulklasse zählt er zu den Besten. Mit seiner Mutter lernt er eifrig die Theorie, paukt derzeit Pflanzennamen. Im Hause van de Kraan gibt es die Vereinbarung, dass es jedes Mal, wenn Felix mit einer Eins nach Hause kommt, Steak zum Essen gibt. "Sie ahnen gar nicht, wie oft ich in letzter Zeit Steaks braten muss", sagt Felix' Mutter nicht ohne Stolz. Ihrem Traum von der größtmöglichen Eigenständigkeit für ihren Sohn ist sie einen großen Schritt nähergekommen.