Ausgabe 07/2016
Schlag auf Schlag in eine Präsidialdiktatur
Mehr als 100.000 Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes sind suspendiert, entlassen oder verhaftet worden, ebenso unzählige Journalisten. Die Gewerkschaften sollen geschwächt werden. Orte mit überwiegend kurdischer Bevölkerung werden teils Trümmerfeldern gleich gemacht - wie der türkische Präsident Erdoğan im Zeitraffer einen Führerstaat errichtet
Verständnislose Blicke - nach Schließung der Redaktion der unabhängigen Zeitung Cumhuriyet am 31. Oktober 2016 steht dieses Paar vor einer türkischen Flagge vor dem Redaktionsgebäude
Es ist ein verstörender Anblick. Auf der einen Seite eine scheinbar normale Stadt, auf der anderen Seite eine Trümmerlandschaft. Es könnte von einem Erdbeben herrühren, doch ein Erdbeben schafft nicht eine derart scharfe Trennlinie. Hier normale Häuser, dort ausgebrannte Ruinen, eingestürzte Dächer und meterhohe Einschusslöcher in Fassaden, die oft nur noch ein Betonpfeiler vor dem völligen Zusammenbruch bewahrt. Unterstrichen wird der Gegensatz von zerstörter und intakter Stadt durch einen meterhohen massiven Zaun, der sich quer durch das Zentrum erstreckt und den zerstörten Teil undurchdringlich absperrt.
Niemand der ehemaligen Bewohner darf diesen gesperrten Teil der Stadt mehr betreten. "Selbst die Häuser, die noch bewohnbar wären, sind nicht mehr zugänglich. Die Leute dürfen nicht mehr in ihre Wohnungen. Sie sollen verschwinden", sagt Sara Kaya, eine sehr lebhafte, energische Frau, der man ihre Empörung anhört.
Sara Kaya war die Bürgermeisterin der Stadt, die nun zur Hälfte zerstört ist. Ihre Stadt, Nusaybin, ist zu über 90 Prozent von Kurden bewohnt. Sie liegt direkt an der syrischen Grenze, etwas südlich der Provinzhauptstadt Mardin. Nusaybin hat eine Schwesterstadt auf der anderen Seite der Grenze in Syrien. Der Ort heißt Quamisli und wird ebenfalls von Kurden bewohnt. Bis vor ein paar Jahren war es noch möglich, die Freunde und Verwandten auf der anderen Seite der Grenze zu besuchen, aber seit die Kurden in Syrien für ihre Autonomie kämpfen, hat die türkische Armee die Grenze dicht gemacht.
Das hinderte die Kurden in Nusaybin allerdings nicht, auch mehr Autonomie und Selbstverwaltung vom türkischen Staat zu fordern. Das Ergebnis ist das Trümmerfeld, in das die Hälfte der Stadt verwandelt wurde, Sara Kaya wurde als Bürgermeisterin abgesetzt und als Unterstützerin einer Terror-Organisation angeklagt.
Herrschaft per Dekret
Die Kämpfe zwischen kurdischen Militanten und der Armee hatten im Frühjahr begonnen und sich bis Ende Juli hingezogen. Auch jetzt, im Oktober ist dieser Krieg zwischen Kurden und den türkischen Sicherheitskräften noch allgegenwärtig. Die Stadt gleicht einem Heerlager. An jeder Kreuzung sind stark befestigte Polizeisperren errichtet worden, die Straßen werden von Panzerwagen dominiert, die bedrohlich auf und ab patrouillieren.
Schon vor dem gescheiterten Putschversuch Mitte Juli ging in Nusaybin und in den anderen Städten im kurdisch bewohnten Südosten der Türkei im Zweifel Gewalt vor Recht. Doch seit dem Putschversuch und dem anschließend eingeführten Ausnahmezustand, der noch mindestens bis Mitte Januar 2017 andauern soll, ist die Rechtlosigkeit offiziell geworden. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan und seine islamische AKP-Regierung herrschen per Dekret. Widerspruch ist nicht mehr möglich, Demokratie und Rechtsschutz sind abgeschafft. Die Maßnahmen, die Erdoğan seit dem Putsch als Rettung der Demokratie feiern lässt, führen in Wahrheit zur ihrer Abschaffung.
"Eigentlich haben wir hier nichts anderes als Faschismus", sagt Sara Kaya. Wie sie wurden 30 andere gewählte kurdische Bürgermeister im September von ihrem Amt suspendiert. Und wie bei ihr lautet ganz allgemein der Vorwurf "Unterstützung einer Terror-Organisation", gemeint ist die PKK, die Arbeiterpartei Kurdistans. Belege dafür werden nicht eingefordert, ein Einspruch vor Gericht ist nicht möglich. Verwaltet wird die knapp 100.000 Einwohner zählende, zur Hälfte zerstörte Stadt jetzt von einem von der Regierung in Ankara eingesetzten Beamten.
Traf es zunächst vor allem kleinere kurdische Städte, war es dann Ende Oktober auch in Diyarbakir, der kurdischen Millionenmetropole, so weit. Das Erdoğan-Regime ließ gegenüber der demokratischen kurdischen Bewegung auch die letzte rechtsstaatliche Scheinfassade fallen und verhaftete die Bürgermeisterin von Diyarbakir, Gültan Kisanak, und ihren Stellvertreter Firat Anli. Seit Mitte der 1990er Jahre, als erstmals kurdische Parteien bei Wahlen zugelassen wurden, stellen Vertreter der kurdischen Selbstverwaltungsbewegung in Diyarbakir den Bürgermeister. Die Stadt ist das Herz der kurdischen Bewegung in der Türkei. Doch im Führerstaat der neuen islamischen Republik soll das nicht mehr gelten. Erdoğan will eine demokratische kurdische Bewegung nicht mehr tolerieren.
Nur der Wille Erdoğans gilt
Doch was seit mehr als 40 Jahren in den kurdischen Gebieten der Türkei hart umkämpft ist - die demokratische Selbstbestimmung, die freie Meinungsäußerung, das Recht auf die Unversehrtheit der Person -, das alles soll nun auch im Westen der Türkei nicht mehr gelten. Seit dem Putschversuch am 15. Juli hat sich die gesamte Türkei dramatisch verändert. Schon jetzt, noch bevor die Verfassung verändert und die Türkei offiziell zur einer Präsidialdiktatur wird, gilt nur noch der Wille Recep Tayyip Erdoğans. Noch immer ist weithin unklar, wer wirklich hinter dem so dilettantisch durchgeführten Putschversuch steckt, umso klarer sind die Konsequenzen, die daraus entstanden sind. Erdoğan hat die Türkei, in der auch 14 Jahre nach Beginn der Dauerherrschaft der AKP noch eine gewisse Pluralität und Machtverteilung gewahrt war, seit dem Putschversuch im Zeitraffer umgekrempelt.
Was sonst vielleicht noch drei Jahre gebraucht hätte, ist nun innerhalb von drei Monaten vollzogen worden. Zuerst wurden die Armee, die Polizei und der Geheimdienst von allen Leuten "gesäubert", deren bedingungslose Loyalität in Frage stand. Unter dem Vorwand, sie stünden im Verdacht, mit der religiös- politischen Bewegung des Predigers Fetullah Gülen zu sympathisieren, die für den Putsch verantwortlich sein soll, sind mittlerweile mehr als 100.000 Angestellte und Beamte des öffentlichen Dienstes suspendiert, entlassen oder verhaftet worden. Täglich kommen neue hinzu. Rund 35.000 von ihnen sitzen im Gefängnis, wann die ersten Prozesse eröffnet werden, ist immer noch unklar.
Dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um Soldaten und Polizisten, sondern Mitarbeiter/innen quer durch alle Einrichtungen sind von der "Säuberungswelle" betroffen. Mit Abstand die meisten von ihnen sind mittlerweile Lehrer/innen, Dozenten und Professoren.
Außer den Angestellten in den ehemaligen privaten Schulen und Universitäten der Gülen-Bewegung sind das vor allem politisch aktive Lehrer und Lehrerinnen, von denen der Erdoğan-Staat annimmt, dass sie den geplanten Umbau des Bildungssystems von einem säkularen, inhaltlich nach Westen ausgerichteten Wertekanon in ein islamisch-religiöses Wertesystem nicht mitmachen wollen. Zusätzlich betroffen waren Lehrer und Lehrerinnen im kurdischen Südosten, die sich neben dem säkularen System auch noch für Unterricht in kurdischer Sprache einsetzen.
Anfang Oktober wurden auf einen Schlag 11.500 Lehrer in den kurdischen Gebieten suspendiert. Fast alle gehören der linken Lehrergewerkschaft Egitim Sen an, die zur Gewerkschaftsföderation KESK gehört, mit der ver.di gute Beziehungen unterhält. Gegenüber ver.di publik sagten die Egitim Sen-Vorstandsmitglieder von Diyarbakir, Hikmet Korkmaz und Selahattin Alp, der Staat versuche die Gewerkschaft zu schwächen, indem er unter der Hand solchen Lehrern, die aus der Gewerkschaft austreten würden, die Wiedereinstellung in den Schuldienst in Aussicht stellt. "Man versucht uns zu spalten und zu schwächen." Noch seien zwar nur wenige Kollegen wirklich ausgetreten, doch viele hätten Angst und machten sich sorgen, wie sie ihre eigenen Familien ernähren sollen, wenn sie endgültig entlassen würden.
Freiheit und Recht sind abgeschafft
Der letzte Bereich, der einer Umwandlung der Türkei in einen Führerstaat noch im Wege stand, waren bislang die Medien. Zwar hatte Erdoğan zumeist durch wirtschaftlichen Druck auch schon vor dem Putschversuch im Juli den größten Teil der Medienkonzerne auf seine Seite gebracht, dennoch gab es noch kritische Zeitungen und Journalisten die, wenn auch nur noch mit Blogs und Websites, Erdoğan immer wieder kritisierten und Informationen öffentlich machten, die das Regime zu unterdrücken versuchte. Auch damit soll jetzt endgültig Schluss sein. Am letzten Tag im Oktober ließ Erdoğan die gesamte Führungscrew der wichtigsten Oppositionszeitung Cumhuriyet verhaften. "Damit", so der frühere Cumhuriyet-Chefredakteur Hasan Cemal, "sind Freiheit und Recht in der Türkei abgeschafft." Das Land bewege sich endgültig auf eine Diktatur zu.
Wahrscheinlich Anfang des kommenden Jahres wird Recep Tayyip Erdoğan eine Volksabstimmung über seine neue Präsidialverfassung durchführen lassen. Am Ausgang besteht kein Zweifel, weil eine demokratische Abstimmung längst nicht mehr möglich ist. Danach ist der Führerstaat dann auch formal besiegelt.