Auf die Frage, ob er mit seinen bald 101 Jahren noch ein Hobby habe, lächelt Theodor Bergmann und sagt: "Radikal sein ist mein Hobby." Anlässlich seines 100. Geburtstages im März 2016 ist ein Artikel in der Regionalzeitung erschienen. "Die Leute hier im Viertel sagen ‚er ist immer noch Kommunist.‘ Das hat mir gefallen." Seit über 45 Jahren lebt Bergmann in Stuttgart-Asemwald. Täglich ist er in seinem Quartier unterwegs - zu Fuß. Mit flinken Schritten führt Theodor Bergmann durch die Siedlung. Sie besteht aus drei Hochhäusern auf einer grünen Anhöhe im Süden der Stadt und wurde Anfang der 70er Jahre von der damaligen gewerkschaftseigenen Wohnungsbaugesellschaft "Neue Heimat" erbaut. Bergmann erwarb zusammen mit seiner Frau eine der Eigentumswohnungen. Kurze Zeit später wurde er Universitätsprofessor. Viele Arbeiter würden hier nicht leben, die Wohnungen seien zu teuer, bedauert Bergmann.

Zurück in seiner Straße begegnet uns im Hauseingang ein Paketbote. Bergmann grüßt freundlich und blickt dem schon wieder davon Eilenden hinterher. "Wahrscheinlich ist er ein Leiharbeiter. Jetzt muss er laufen, der arme Bursche", sagt Bergmann. Zum Glück gibt es in dem Hochhaus einen Fahrstuhl, da muss niemand die Treppen nehmen. Bergmanns Wohnung liegt im sechsten Stock, ein großer Balkon lädt zum Verweilen ein. Doch der 100-Jährige ist kein Freund des Müßiggangs. "Ihr müsst doch was essen. Ich mache das schon", sagt er. Ob man ihm nicht helfen könne? Er lehnt höflich ab, Diskussion ausgeschlossen. Er setzt einen Topf mit Suppe auf den Herd und deckt den Tisch. Am Küchentisch gibt er sich gnädig: "Ihr müsst nicht aufessen. Kein Zwang, keine Diktatur - Demokratie." Seit fünf Jahren hat Bergmann eine Haushaltshilfe, doch heute könne "die Genossin" nicht, sagt er. Nach dem Essen gönnt er sich eine halbe Stunde Schlaf. Dann reden wir weiter, nach und nach erzählt er uns sein Leben.

Die Einheitsfront

"Meine drei älteren Brüder waren Sozialdemokraten und die beiden Jüngeren waren Kommunisten. Wir haben viel diskutiert", sagt Bergmann. Es ist die Zeit der Weimarer Republik und er selbst noch sehr jung. Er wird Mitglied im Sozialistischen Schülerbund. Als er eine linke Schülerzeitung verkauft, fliegt er vom Gymnasium. Er beginnt sich für die Kommunisten zu interessieren. Doch bald beschimpfen diese ihre sozialdemokratischen Kollegen als Sozialfaschisten. Was Bergmann überhaupt nicht gefällt. Zusammen mit den Brüdern Alfred und Josef setzt er sich schließlich als Teil der KPD-Opposition für eine Einheitsfront aller Arbeiter/innen ein, gegen die faschistische Bedrohung. "Doch eine Zusammenarbeit der großen Organisationen war undenkbar", sagt er. Als die Nazis siegen, kann Bergmann ihnen entkommen. "Im März 1933 hat meine Mutter gesagt: ‚Du kannst hier nicht bleiben.‘ Das war vernünftig."

Bergmann ist Atheist, doch sein Vater ein Rabbiner. Er reist nach Palästina ins Exil, seine Eltern und einige Geschwister können bald nachkommen. 1936 kehrt er zum Studieren zurück nach Europa, in die Tschechoslowakei. "Ich war optimistisch. Ich habe geglaubt, die deutschen Arbeiter würden Hitler bald stürzen, und da wollte ich dabei sein. Die Intensität des Terrors konnte ich nicht voraussehen. Auschwitz war unvorstellbar", sagt Bergmann. Um der deutschen Wehrmacht zu entkommen, flieht er zwei Jahre später nach Schweden. Dort harrt er aus, bis zum Sieg der Alliierten 1945.

Bergmann sitzt aufrecht am Wohnzimmertisch, seine Schilderung unterbricht er nur für ein paar Schlucke aus dem Wasserglas. Bergmann antwortet sehr präzise auf alle Fragen. Auch erzählerische Umwege führt er stets zum Kern der Sache zurück. Warum erinnert er sich bloß so gut? Ein Tagebuch hat er nie geführt. "Ich glaube, ich habe ein gutes Gedächtnis."

Die Außenseiterrolle

In der Nachkriegszeit nimmt Bergmann als Herausgeber einer linken Zeitschrift sowie in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit rege an den Debatten der deutschen Arbeiterbewegung teil. "Ich habe immer gesagt, dass ich Kommunist bin. Doch ich war gegen Schimpfereien und für sachliche Mitarbeit in den Gewerkschaften. Ich bin ein kritischer Kommunist. Ich bin für Demokratie und eine offene Debatte", sagt er, und: "Stalin hat die kommunistische Bewegung in Europa zerstört." Der Sozialismus sei noch immer erstrebenswert, "aber wir müssen die kritischen Menschen reden lassen".

Er bleibt nach der Teilung Deutschlands im Westen. In der DDR liegt gegen ihn ein Haftbefehl vor, da er sich dort mit kritischen Kommunisten traf. Bergmann spricht sich öffentlich sowohl gegen die Unterdrückung einer freien Debatte im Realsozialismus, als auch gegen Zugeständnisse der westdeutschen Gewerkschaften an den Kapitalismus aus. Jenseits von Sozialdemokratie und Parteikommunismus nimmt er im Kalten Krieg politisch eine Außenseiterrolle ein.

Doch er schlägt sich erstaunlich gut durchs Leben, mit Freunden, Weggefährten und seiner Frau Gretel. Die lernt er 1946 in Stuttgart kennen, zusammen bilden sie ein Team. "Gretel war eine Genossin, die mich auch kritisiert hat", sagt Bergmann, als rede er über ein anderes Parteimitglied und nicht über seine Frau. Tatsächlich ist auch Gretel eine oppositionelle Kommunistin und Gewerkschaftsangestellte. Sie gibt später ihre Arbeit auf, zusammen mit ihrem Mann will sie etwas von der Welt erfahren. Bergmann ist inzwischen Wissenschaftler, Professor für international vergleichende Agrarpolitik, und macht Karriere, mit Gretel unternimmt er Forschungsreisen um die halbe Welt, nach Indien, China und in andere Entwicklungsländer. Sie ist an seiner Seite, bis sie 1994 stirbt.

Der Gewerkschafter

Als Dolmetscher nimmt Bergmann 1949 am Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes teil. "Kein anderer konnte so viele Sprachen", sagt er. Aber Chinesisch habe er nie gelernt. Aus Kontakten zu ausländischen Gewerkschaftern und Forschern entstehen viele Freundschaften. Zu internationalen Fragen verfasst Bergmann immer wieder Artikel für die deutsche Gewerkschaftspresse. So schreibt er im Juli 1967 einen Leitartikel für das DGB-Debattenorgan Gewerkschaftliche Monatshefte: Nach dem Sechstagekrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Syrien, Irak und Jordanien sei die Linke in ihrer Haltung gegenüber Israel gespalten gewesen, sagt Bergmann. Er tritt in dem Artikel für das Recht Israels auf Selbstverteidigung ein. Er schreibt: "Der Konflikt im Nahen Osten berührt alle. Besonders aber muß die Situation deutsche Gewerkschafter berühren, weil sie selbst Opfer der Hitlerbarbarei waren."

Bergmann gestikuliert ständig, während er erzählt, betont, gibt anschaulich wieder. Manchmal scheinen seine Augen geradezu zu leuchten. "Die Gewerkschaften haben auch heute einen politischen Auftrag", sagt er. Er winkelt dabei den rechten Arm an, ballt die Hand zur Faust und lässt sie auf den linken Unterarm fallen. "Auch für Lohnfortzahlung im Krankheitsfall musste gestreikt werden. Wir müssen kämpfen, sonst gibt es keinen Kompromiss!"

Er erzählt von Streikversammlungen und Demonstrationen, die er in den letzten Jahren besucht hat. Die von ver.di in Stuttgart geführten Streiks haben ihn beeindruckt. "Ich bin hingegangen und habe zugehört. Ich habe das miterleben wollen", sagt Bergmann. "Ihr müsst versuchen aus der Geschichte zu lernen und die Demokratie in den Gewerkschaften aktiv gestalten", rät er. "Der Kapitalismus kann nicht das letzte Wort haben", sagt er, der kritische Kommunist, und klingt dabei fast trotzig.


Theodor Bergmann, geboren am 7. März 1916 in Berlin. Mit 13 Jahren Mitglied der Jugendorganisation der KPD-Opposition. 1933 Flucht nach Palästina. 1936 Aufnahme eines Studiums der Agrarwissenschaften in der Tschechoslowakei. Zwei Jahre später Flucht nach Schweden, wo er als Landarbeiter beschäftigt ist. 1946 Rückkehr nach West-Deutschland, ist dort tätig als Herausgeber der linken Zeitschrift Arbeiterpolitik. Zudem Mitglied der Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft (GGLF) im DGB. 1955 Abschluss der Doktorarbeit über Fragen der schwedischen Landwirtschaft. Anschließend Anstellung bei der Landwirtschaftskammer Hannover. 1965 Wechsel an die Universität Hohenheim, ab 1973 Professor für international vergleichende Agrarpolitik. Nach der Pensionierung Beschäftigung mit der Geschichte der Arbeiterbewegung. 2006 entsteht ein Film über sein Leben: Dann fangen wir von vorne an. 2016 ist Bergmanns aktualisierte Autobiographie beim VSA-Verlag erschienen.

"Ich war optimistisch. Ich habe geglaubt, die deutschen Arbeiter würden Hitler bald stürzen, und da wollte ich dabei sein. Die Intensität des Terrors konnte ich nicht voraussehen. Auschwitz war unvorstellbar"