Ausgabe 03/2017
In Straßenschuhen oder in Badelatschen
80 Paar Fußballschuhe hat Alois Görgen im vergangenen Jahr für seine Spieler gekauft, bis Mitte März dieses Jahres waren es schon 30. Er trainiert die 4. Mannschaft des SC Germania Erftstadt-Lechenich, ein Team, in dem ausschließlich Flüchtlinge spielen. Eine Mannschaft, in der die Spielerzusammensetzung ständig wechselt. Eine Mannschaft aber auch, die viel mehr braucht, als jemanden, der sich nur um Taktik, Fitness und das nächste Spiel kümmert.
"Das ist Streetworking in allen Bereichen", sagt Görgen zu seiner Arbeit mit den jungen Männern, die aus mehr als 15 Nationen nach Deutschland geflohen sind. Es sind nicht nur die Gründe für ihre Flucht, die sie hier immer noch verarbeiten, es sind ihre oft noch ungeklärte Situation, die Langeweile in einem Alltag, der zu großen Teilen aus Warten besteht, und der Frust, dass sie oft nicht arbeiten dürfen. Durch das Training mehrmals in der Woche und die Spiele bekommt ihr Alltag zumindest etwas Struktur.
Auf dem zweiten Tabellenplatz
Sandy Auert ist die Integrationsbeauftragte der Stadt Erftstadt bei Köln. Anfang 2015 kam der SC Germania Erftstadt-Lechenich auf sie zu, wollte mit Fußballtraining dazu beitragen, geflüchtete Kinder besser in den Alltag zu integrieren. "Aber Kinder hatten wir kaum in Erftstadt", sagt sie. Dafür junge Männer. Rund 40 von ihnen brachte sie zum ersten Training, in Straßenschuhen, Turnschuhen oder Badelatschen. Im August 2015 startete die Mannschaft in den Spielbetrieb, anderthalb Jahr später steht sie auf dem zweiten Platz der Tabelle in der Kreisliga C.
So oft es geht, ist Sandy Auert bei den Spielen dabei, redet mit Fans, Trainern und Offiziellen der anderen Mannschaften. Oft sind es Teams, in denen niemand mit einem ausländischen Pass spielt. Sie sieht es als Erfolg, wenn sich das beim nächsten Spiel geändert hat.
Spieler aus Erftstadt trafen Fußballprofis mit eigener Fluchterfahrung: Aias Aosman und Arton Ferati, Ismail Lakhel und Milad Salem, Neven Subotic und Abdullah Youla Daffe (von links oben nach rechts unten)
"Die Leute kannten uns nicht und hatten Angst, dass wir schlechte Absichten haben", sagt Eyad Ibrahim zu seinen Alltagserfahrungen. "Aber das hat sich geändert, als sie uns kennengelernt haben."
Kurze Videos fürs Internet
Die 4. Mannschaft des SC Germania Erftstadt-Lechenich sorgt auch außerhalb des Platzes für Aufsehen. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat mit ihr von der Produktionsfirma DocDays elf kurze Filme drehen lassen, die im Mittelpunkt der Webvideo-Serie "Refugee Eleven" stehen. Darin trifft jeweils einer der Geflüchteten des Kreisligisten einen Fußballprofi, der auf eine eigene Fluchtgeschichte zurückblicken kann.
Da redet der Syrer Fehmi Almgharbi mit Eroll Zejnullahu, Mittelfeldspieler beim Zweitligisten 1. FC Union Berlin, über das Warten. "Die Unsicherheit über meine Zukunft war sehr schwer für mich. Mir war auch oft langweilig", sagt der 32-jährige Mittelfeldspieler. Zejnullahu ist zwar in Berlin geboren, hat aber dort mit seinen aus dem Kosovo geflüchteten Eltern neun Jahre in einer Sammelunterkunft gelebt. Auch er kennt das Warten und die Unsicherheit gut.
Chris Asams ist aus Ghana nach Erftstadt gekommen, aus einem vermeintlich sicheren Herkunftsland, in dem er sich aber nicht sicher fühlte. Er hat nur wenig Hoffnung, dass er bleiben darf: "Ich versuche, nicht daran zu denken. Aber es ist da. Man kann nicht davor weglaufen. Es fühlt sich gar nicht gut an, nicht zu wissen, was einen in naher Zukunft erwartet."
Vedad Ibisevic, dem Kapitän des Bundesligisten Hertha BSC Berlin, ging es ähnlich: Seine Familie war fünf Jahre nach Kriegsende aus Bosnien geflohen. "Alle dachten damals, der Krieg ist vorbei, also ist die Lage in Bosnien automatisch wieder gut. Aber so war es nicht", sagt der 32-Jährige.
Allen hat der Fußball geholfen, in Deutschland heimisch zu werden. Sie haben Freunde gefunden und Selbstvertrauen gewonnen, wie es die ehemalige Fußballnationalspielerin Fatmire Alushi beschreibt. Sie haben ihr Deutsch verbessert, aber auch gelernt, mit Niederlagen umzugehen, als Team fair zu spielen und sich gemeinsam über Siege zu freuen. Und das hilft ihnen nicht nur auf dem Platz.
Einige seiner Spieler hätten schon in andere Mannschaften wechseln können, sagt Alois Görgen. Bisher ist aber noch keiner von ihnen gegangen. So sehr zählen für sie der Zusammenhalt der Mannschaft und der Spaß, den sie gemeinsam bei den Spielen haben.
"Refugee Eleven"
In jedem der elf, gut zweiminütigen Filme wird ein Schwerpunktthema rund um Flucht und Asyl angesprochen. Veröffentlicht werden sie seit Anfang April in sozialen Medien wie Facebook und YouTube. Die Bundeszentrale für politische Bildung will damit in erster Linie Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen. In der Begleitbroschüre gibt es weitere Informationen zu den Themen der Kurzfilme, so dass sie im Unterricht oder bei Bildungsveranstaltungen eingesetzt werden können.
Anfang April hatte beim Filmfestival "11 Millimeter" der 90-minütige Film Refugee Eleven Premiere. Darin wird die Mannschaft vorgestellt, es zeigt sie in ihrem fußballerischen und privaten Alltag. Am 17. Mai wird er im WDR gesendet.