"In einem unauffälligen Gebäude des Verfassungsschutzes, in einer stillen Straße Magdeburgs, am Ende eines Gangs, der mit geräuschschluckendem Gummi ausgelegt ist, befindet sich eine Akte über eine junge Frau aus Halle." Das war kein mit Adjektiven überladener Auszug aus einem Krimi, sondern der Anfang eines Artikels kürzlich in einem Nachrichtenmagazin. Null Information, stattdessen werden die Rechtsextremistin, um die es nämlich geht, und vor allem der Verfasser des Artikels, der sich wie ein tapferer Detektiv darstellt, von einer romanhaften Atmosphäre umhüllt. Zunehmend werden journalistische Berichte wie Fiktionen verfasst, gleichzeitig entpuppen sich Romane immer öfter als persönliche Erfahrungsberichte. Es scheint einen Doppeltrend zu geben: Sowohl journalistische Berichterstattungen als auch imaginäre Charaktere haben an Glaubwürdigkeit verloren. Im Mittelpunkt steht stattdessen der Verfasser: Wir begleiten ihn durch mysteriöse Korridore, erfahren, wie er sich an Kriegsschauplätzen fühlt, oder welch lustigen Einfall das Kleine heute am Frühstückstisch hatte. Er schreibt nicht: "Es ist heiß", sondern: "Ich schwitze". Wahrheit ist ja subjektiv. Nur das Ich gilt als authentisch. Es ist sozusagen die Übertragung der Selfie-Kultur auf den Journalismus. Sicherlich waren Nachrichten niemals ganz objektiv. Aber war nicht der Anspruch, Zusammenhänge begreifen zu können, und nicht, sich mit der Gefühlswelt des Berichterstatters zu identifizieren? Neuerdings ist oft von einem "postfaktischen Zeitalter" die Rede. Das heißt nicht, dass es keine Fakten mehr gäbe, sondern dass diese je nach Meinung und Gemütslage des Erzählenden unterschiedlich verpackt werden. Der grassierende Vertrauensverlust gegenüber Medien und Politik wird dem Mangel an überzeugenden Stories zugeschrieben. Dementsprechend wird versucht, die Wirklichkeit "aufzusexen". Es gebe keinen Interessenkonflikte oder politische Unterscheidungen mehr, sondern nur noch konkurrierende "Narrative". Das macht die Aufgabe des Meinungsmachers erheblich leichter: Du willst die Welt verändern? Verändere das Narrativ! Guillaume Paoli