Die Marktgemeinde Reutte in Nordtirol streifen jährlich Millionen Menschen mit dem Auto. Halt macht nur ein Bruchteil von ihnen. Zum Glück. Die Naturparkregion setzt auf sanften Tourismus und regionale Wirtschaft

Der Holzmayr Manfred bekommt die Krise, wenn er darüber nachdenkt, wie in der Welt gewirtschaftet wird. "Wir gehen in der Wirtschaft den falschen Weg und verlieren das Regionale aus den Augen", sagt er. Der Holzmayr Manfred ist Bäckermeister. Und über das Wirtschaften kann er sich mit immer röter werdenden Wangen ereifern und gleichzeitig kleine Teigkugeln formen, die er zuvor mit einer Maschine namens Fortuna aus einem großen Teigkloß gestanzt hat. Die Fortuna sieht so retro aus, wie ihr Name klingt. Aber sie passt in die winzige 250 Jahre alte Backstube, in der der Holzmayr Manfred jeden Tag Brötchen bäckt. Seine Familie tut das seit 90 Jahren in dem Haus im österreichischen Reutte in Nordtirol. Dort im Alpenvorland, wo man wie im nicht weit entfernten Bayern die Menschen immer noch gern erst beim Familien- und dann beim Vornamen nennt.

Mit den Jahren haben sich die dicken Steinwände der Bäckerei Holzmayr gesenkt und verzogen, das Haus, das bereits 500 Jahre alt ist, versackt von außen betrachtet ein wenig im Asphalt des Gehweges. Doch das ist kein böses Zeichen dafür, dass die kleine alte Bäckerei vom Untergang bedroht sein könnte. Etwa weil die Kunden jeweils nur einige hundert Meter die Straße rauf und runter zu den riesigen Supermärkten mit Backstationen abwandern könnten. Die Holzmayr-Bäckerei in der knapp 7.000-Seelen-Marktgemeinde Reutte floriert, wie im Sommer der Garten neben dem Haus, in dem jedes Jahr immer noch die Bäume, Kräuter und Stauden blühen, die der Großvater Holzmayr einst bei Übernahme der Bäckerei angepflanzt hat. So, wie sich die Gemeinde Reutte den sanften Tourismus auf die Fahnen schreibt, brennt der Enkel für regionales Wirtschaften. Um das zu lernen, ist er viel gereist.

Von Reutte aus in die weite Welt

"Unsere Wirtschaft ist darauf ausgerichtet, möglichst viel mit Computern zu machen und Menschen auszusortieren", sagt Manfred Holzmayr, während er mit einem Holzschuber die handgefertigten Brötchen, die hier Semmeln genannt werden, in den Backofen schiebt. Bevor er zurück nach Reutte ins Lechtal kam, hat er in Marburg eine Bio-Bäckerei mit 70 Mitarbeiter/innen geleitet, aber "das will ich nicht mehr". Heute beschäftigt Manfred Holzmayr drei Verkäuferinnen in der Verkaufsstube, in der Backstube eine Bäckermeisterin, zwei weitere Bäcker und einen Auszubildenden. Sie backen mit Roggen, Hafer, Weizen und Dinkel aus der Region, haben eine Steinmühle, eine Flockenquetsche, zwei weitere "elementare Maschinen", und eben die Fortuna, was übersetzt Glück, aber auch Schicksal heißt. 80 Prozent der Einnahmen macht Holzmayr über den kleinen Verkaufsraum mit ein paar Tischen, an denen zum Gebäck Kaffee und Tee aus fairem Handel angeboten werden.

Angebote zum Expandieren hat er schon viele bekommen. Zum Beispiel von der Plansee-Gruppe, dem größten Arbeitgeber vor Ort mit rund 6.250 Mitarbeiter/innen weltweit, davon 2.000 in Reutte, und einem Umsatz von 1,26 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Als die Metallwerke Plansee 1921 gegründet wurden, produzierten 20 Beschäftigte Molybdän- und Wolframdraht für die Lichtindustrie. Heute deckt die Plansee-Gruppe die gesamte Wertschöpfungskette der beiden Metalle ab - von der Pulverherstellung über pulvermetallurgische Prozesse bis hin zum Recycling der Werkstoffe. Angeblich stecken weltweit in jedem Handy Metallverbindungen aus Reutte.

Auf Expansion keinen Bock

Als die Plansee-Gruppe Holzmayr fragte, ob er nicht die Brötchen für ihre Kantine backen wolle, weil die noch wie Brötchen schmeckten, lehnte er ab. "Da habe ich keinen Bock drauf", lautete seine Antwort, "da bekommt ihr das gleiche Zeug wie jetzt". Eine "automatisierte Semmelstraße" hätte er sich dafür zulegen müssen, die wiederum maschinengängige Teige braucht. Und die werden aus industriellen Backmischungen hergestellt. Also beliefert die Plansee-Gruppe weiterhin die ganze Welt, und Manfred Holzmayr backt immer noch seine kleinen Brötchen, für die - wie an diesem Tag - nach Geschäftsschluss noch ein paar Leute vor verschlossener Tür stehen bleiben, in der Hoffnung, sie würde sich noch einmal öffnen. Aber der Holzmayr Manfred winkt freundlich ab und wischt noch einmal über den Tresen. Es ist Samstagmittag, und die Woche und der Tag waren lang, für die Bäcker hat jeder Tag eine halbe Stunde nach Mitternacht begonnen.

Von Füchsen und Flechten

Draußen auf dem leeren Obermarkt liegen hier und da noch ein paar Schneehaufen. Reutte liegt auf 854 Metern Höhe und mit dem nahenden Frühling ist der Winter noch einmal zurückgekehrt. Die Wolken ziehen sich zusammen, und es beginnt zu regnen, auf den Bergen rundherum, die teils mit über 2.000 Metern über der Baumgrenze liegen, schneit es. Mit einem Ruftaxi geht's nach Vils, wo Frank Schatz, der Hüttenwirt der Vilser Alm, an einem Parkplatz mit seinem Polaris, einem Quad auf Ketten, wartet. Man versteht kaum sein eigenes Wort, so einen Lärm macht das Gefährt. Aber es bringt uns sicher auf teils vereisten Fahrrinnen zur Alm hinauf, in eine Winterlandschaft, in der wir in unseren Wanderschuhen bis zur Wade versinken.

1) Auf über 100 Metern Höhe hängt die highline179 über dem Tal. Nicht jede/r traut sich, über die Hängebrücke zu gehen 2) Die gemeine Flechte, eine der ältesten symbiotischen Pflanzen der Erde, ist reich an Nährstoffen, auch im Winter 3) Von unten betrachtet, hängt die highline179 federleicht und gerade in der Luft 4) Der Imker Mario Kuisle neben seiner Honigschleuder 5) In der Bäckerei Holzmayr werden die Brotlaiber noch von Hand geknetet und in Körben gebacken 6) Manfred Holzmayr, der Bäcker, braucht nur wenige elementare Maschinen 7) Jedes seiner kleinen Brötchen formt der Bäcker noch selbst mit der Hand aus regionalen Zutaten

Ganz still ist es dort oben. Der Schnee fällt in dicken Flocken, und der Haueisen Emil wartet schon mit Schneeschuhen, einer Art überdimensionierter Langlaufski-Bindungen, auf uns. Mit denen staken wir querfeldein durch den Schnee, dem Emil hinterher, der sich nach seiner Pensionierung zum Naturwanderführer ausbilden lassen hat. Emil hat das Wissen eines Lexikons. Er erkennt und erklärt Tierspuren, bevor wir sie überhaupt entdeckt haben: Spuren von Schneehasen, Rehen, einem Fuchs - "der zieht Schnüre", sagt Emil - einem Marder und Spuren von Eichhörnchen. An einem Baum greift Emil nach einer Flechte. "Das ist eine der ältesten symbiotischen Pflanzen der Erde, viel älter als der Mensch", sagt er. Eine Kreuzung aus einem Pilz und Algen, die sehr reichhaltig an Nährstoffen sei. "Aber schlecht, wenn man sie auf der Haut hat", sagt einer aus der Gruppe. Ja, sagt der Emil, aber das sei ja auch eine ganz andere Flechte. Doch bevor er ausholen kann, lenkt ihn schon eine neue Tierspur ab, noch ein Fuchs, was auch wir jetzt erkennen.

Ein Leben in Symbiose mit der Landschaft

Wie der Holzmayr Manfred ist Emil lang durch die Welt gereist. Oft sei er monatelang von Zuhause fort gewesen. Doch seine Wurzeln hat er nicht verloren. Er lebt in Symbiose mit der Landschaft, er braucht sie. Er kennt die Berge rund ums Tal, durch das der Lech fließt, der früher zur Energiegewinnung für die Ledergerberei und Stofffärberei der 2008 geschlossenen Reutter Textilwerke genutzt wurde. Und genauso gut kennt er die Geschichte des Tals bis zu den Tagen der ersten Stämme, die hier lebten. Sein Gesicht mit einem stets freundlichen Lächeln ist auch nach den langen Wintermonaten gebräunt von der Sonne, die, wenn sie auf den Schnee scheint, wie durch ein Brennglas strahlt. Heute ist sie nicht einmal zu sehen.

Nach zwei Stunden sind wir zurück in der Wirtsstube von Frank und seiner Frau Erni. Sie leben das ganze Jahr hier oben auf 1.226 Metern Höhe. Der große Kachelofen ist mollig warm. An die Haken rundherum hängen wir die vom Schnee durchnässten Jacken zum Trocknen auf, die Schuhe stellen wir vor den Ofen. Emil bestellt sich eine Portion Käsespätzle mit Salat, "die Bergluft macht hungrig", aber am Ende schafft er sie nicht ganz. Sie liegen ihm "wie ein Kloß im Magen". Doch manchmal kann er einfach nicht ohne die Spätzle, so wie Heidi sich nach dem Käse des Alm-Öhi verzehrte.

Gesättigt steigen alle wieder in ihre Schuhe und Jacken. Zu Fuß geht es durch das anhaltende Schneegestöber vier Kilometer talabwärts zurück zum Parkplatz, wo das Ruftaxi schon wartet. Ein Grundkurs an der steierischen Harmonika steht auf dem Programm. Das geht in die Arme, die Füße haben Pause.

Im Dunkeln auf die Alm

Abends in der Dämmerung machen wir uns zum Abendessen auf den Weg rauf zur Dürrenberg Alm, einer weiteren von insgesamt 18 Almen und Hütten in der zum Naturpark ernannten Region. Auf halber Strecke erstarren an einem steilen Abhang Gämse, als sie uns sehen und hören. Bald sind sie vor den dunkler werdenden Baumstämmen kaum noch auszumachen. Unten im Tal sind die Lichter von Reutte angegangen. Dort, wo sich Lichtkegel in einer langen Perlenkette bewegen, führt die Fernpassstraße B 179 den Alpenverkehr an Reutte vorbei nach Italien. Rund drei Millionen Autos rauschen im Jahr über sie, in den Bergen ist davon nichts zu hören und auch unten im Ort nicht. Die meisten Touristen streifen Reutte nur, sie wollen in die großen Ski- und Wandergebiete der hohen Alpen weiter. Doch seit Ende 2014 hat auch die kleine Gemeinde ein Highlight: Die "highline179", die derzeit noch als längste Hängebrücke tibetischer Art den Guinness Weltrekord hält. Von der Dürrenberg Alm aus sieht man das Fort Claudia und die Festung Ehrenberg erleuchtet, zwischen denen die Brücke auf über 100 Metern über der B 179 hängt.

Es ist schon dunkel, als wir die Alm-Stube nach knapp zwei Stunden auf engen Pfaden durch Schnee und Wald erreichen. Obwohl an allen Wänden Jagdtrophäen in Gestalt von Geweihen hängen, fühlt man sich in der Wirtsstube ein bisschen wie in Dänemark. Helle Holzdekorationen, weiß-rot- karierte Vorhänge und Tischdecken mit Herzmustern geben den alten dunklen Holzwänden ein lichtes Kleid. Auch das traditionelle Alm-Essen ist ein wenig leichter. Die Spinatknödel mit Parmesan zergehen auf der Zunge. Der Kaiserschmarrn zum Nachtisch ebenso. Das hat auch einige andere Wanderer trotz Schnee und Kälte auf die Dürrenberg Alm gelockt.

Der Berg ruft

Am nächsten Morgen zeigt sich die Sonne. Auf dem Weg rauf zur Highline lässt sie den Schnee von allen Baumwipfeln rieseln. Ein serpentinenartiger Wanderweg führt von der Klause der Festung Ehrenberg hinauf zur Hängebrücke. Der Weg bietet beeindruckende Ausblicke auf die gegenüberliegende Talseite. Beim Erblicken der Hängebrücke holt man erst einmal Luft. Von unten betrachtet, hing sie federleicht und gerade in der Luft, auf Augenhöhe betrachtet, hängt sie aber richtig durch. Immerhin an mächtigen Stahlverankerungen in den Bergen und massiven Drahtseilen. Drohnen haben einst den Anfang gemacht, die ersten dünnen Seile gespannt. Über die Distanz von 406 Metern. Beim Überqueren der Brücke fühlen die sich sehr lang an, länger als die Umrundung eines Fußballplatzes. Nicht alle der jährlich rund 300.000 Besucher/innen trauen sich auf sie drauf, sie gehen die Serpentinen zurück ins Tal. Einige aus unserer Gruppe bleiben ganz ungerührt vom Wackeln, das sich wie eine leichte Turbulenz im Flugzeug anfühlt, andere reißen panisch die Augen auf und klammern sich an den Geländern fest. Zwei junge Männer mit Sonnenbrillen hinter uns überspielen ihr mulmiges Gefühl mit Gelächter und Scherzen: "Wie ist der Scheiß hier eigentlich festgemacht?" Das sollte sich niemand fragen, der nach unten schaut. Unter den Füßen sind nur Gitter und darunter rauscht die Autokarawane. Der Blick nach vorne und hinten hingegen richtet sich auf beeindruckende Bergmassive. Sie erklären, wie das Dance-Duo K2 auf ihren größten Chart-Erfolg "Der Berg ruft" gekommen ist, und warum die Menschen, die von hier weggegangen sind, eines Tages zurückkommen. Wo andere Urlaub machen, da lässt es sich aushalten. Sogar auf einer Hängebrücke.

Der Kuisle Mario ist nicht weggegangen. Der kleine drahtige Mann in Karohemd, Sporthose und Turnschuhen, den wir am Nachmittag besuchen, sieht aus wie ein Skispringer, der nur ein paar Täler weiter in Garmisch Partenkirchen die Schanze sein Hobby nennt. Tatsächlich hat Mario Kuisle eine ganz andere Leidenschaft, wenn er nicht als Ingenieur für die Plansee-Gruppe arbeitet und wie derzeit noch den letzten Schliff an sein neues Haus mit Aussicht auf den in der Sonne glitzernden Lech anlegt. Mario Kuisle ist seit 20 Jahren Imker, inzwischen von 80 Bienenvölkern mit rund 60.000 Bienen.

Im Winter sind es nur 6.000 Bienen, "dann ist das ein reiner Weiberstaat", sagt er in dem fensterlosen Raum seines Kellers, in dem die "Weiber" überwintern. Im Durchschnitt hat ein Bienenvolk einen Ertrag von 60 Kilo Honig im Jahr, in Tirol sind es nur 15 Kilo. Aber das ist auch von Vorteil. "Je weniger Ertrag desto mehr Enzyme hat der Honig", sagt der Imker.

Beim Honig wird auf keinen Fall gepanscht

800 Stunden im Jahr ist Mario Kuisle mit den Bienen beschäftigt. Seine Familie hilft mit. In der Hochsaison im Mai, Juni und Juli "geht nebenbei gar nichts mehr, kein Sport mehr, nichts". In dieser Zeit ist Mario Kuisle nahezu täglich nach der Arbeit noch bis 22 oder 23 Uhr bei seinen Bienen. Im Moment bereitet er in der Garage und dem Keller seines neuen Hauses noch die Bienenstöcke vor. In dem fensterlosen Raum stapeln sich die Waben in Kisten bis zur Decke. In einem anderen köchelt der Wachs, ein malzig strenger Geruch hängt in der Luft. In einer Küche stehen die Honigschleuder und etliche Gläser mit goldbraunem, flüssigem und senfgelbem, festem Honig. Mario Kuisle panscht nicht - wie es bei den Industriehonigen passiert, die gefiltert, hitzebehandelt und mit Honigen aus allen möglichen Gebieten vermischt werden. "Das würde ich nicht mal meinen Bienen verfüttern", sagt Kuisle. Wie für den Bäcker Manfred Holzmayr gilt zumindest beim Honig für ihn auch das regionale Wirtschaften. Bei der Plansee-Gruppe muss er den Blick auf die ganze Welt haben.

Global denken, lokal handeln

Aber den hat auch Manfred Holzmayr. Eine Reise nach Ecuador hat ihn das regionale Wirtschaften gelehrt. Er besuchte dort die von dem italienischen Pater Antonio Polo vor 40 Jahren gegründete Kooperative Salinerito, die heute ganz Ecuador mit handgemachtem Käse und handgeschöpfter Schokolade beliefert. Mit Entwicklungshilfegeldern trägt sich die Kooperative der 1.000 Einwohner des Ortes Salinas, sie musste noch nie Schulden machen. "Alles, was mich der Pater in Ecuador gelehrt hat, kann ich eins zu eins aufs Lechtal, auf jede strukturschwache Region in der Welt übertragen", sagt Manfred Holzmayr.

So wächst Reutte aus sich heraus, sanft, mit Schneeschuhwandern, Alm-Auf- und Abstiegen, mit Menschen wie Emil Haueisen und Mario Kuisle, Menschen, die global denken und lokal handeln. Und der Holzmayr Manfred, der könnte "militant" werden, sagt er, wenn es um die regionale Wirtschaft geht. Es ist sein Schicksal - und wohl ein Glück für Reutte.

Alle wichtigen Infos zu Anreise, Unterkunft, etc.

unter www.reutte.com und www.winterwandern-tirol.at