Ausgabe 05/2017
Der große Etikettenschwindel
Lufthansa-Technik-Standort Philippinen - und der deutsche Staat als Miteigentümer der Fluggesellschaft dumpt mit
Von Werner Rügemer
So viel Freihandel war noch nie: Gerade erst kam heraus, dass die Europäische Union (EU) schon seit vier Jahren heimlich mit Japan über ein Abkommen verhandelt, genannt JEFTA. Und während in den letzten Jahren das öffentliche Interesse auf die Abkommen der EU mit den USA, TTIP, und mit Kanada, CETA, gerichtet war, liefen und laufen noch ein Dutzend weitere derartige Abkommen, zum Beispiel mit Südkorea und Singapur. Mit afrikanischen Staaten werden solche Abkommen unter der Bezeichnung Ökonomische Partnerschaftsabkommen, EPA, verhandelt. Und das Freihandelsabkommen über Dienstleistungen, TISA, zwischen der EU und vier Dutzend Staaten ist ja auch noch im Spiel.
Eine gigantische Verdummungsoperation
Die EU unter Führung der deutschen Bundeskanzlerin macht den Freihandel geradezu zum neuen Markenzeichen der Demokratie. Da kann man sich auch so schön gegen den US-Präsidenten Donald Trump abgrenzen, der so plump sein Land gegen die guten deutschen Exporte abschotten will. Aber das symbolträchtige Markenzeichen Freihandel ist ein Etikettenschwindel, eine gigantische Verdummungsoperation. Warum?
Im Mai 2017 urteilte der Europäische Gerichtshof (EUGH) über das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Singapur: Die Ratifizierung darf sich nicht auf die Europäische Kommission oder das Europäische Parlament beschränken. Auch die nationalen Parlamente der 27 EU-Mitgliedsstaaten müssen über das Abkommen entscheiden. Denn: Die EU hat zwar laut EU-Vertrag das Mandat für die Außenhandelspolitik. Aber das Abkommen EU-Singapur geht weit über Außen- und Freihandel hinaus. Da werden auch die Rechte von Investoren und die private Schiedsgerichtsbarkeit geregelt, und dies fällt in den Aufgabenbereich der nationalen Gesetzgeber. Mit anderen Worten: Der Freihandelsvertrag EU-Singapur ist im Wesentlichen kein Freihandels-, sondern ein Investitionsvertrag. Und die Bedingungen für Investitionen - etwa Arbeits-, Steuer- und Umweltgesetze - werden in der EU immer noch von den nationalen Parlamenten beschlossen.
Das klassische Thema des Freihandels sind Zölle, also Steuern. Sie werden bei Exporten beziehungsweise Importen erhoben. Daneben geht es um Kontingente, also zum Beispiel darum, wie viele Autos und wie viele Tonnen Baumwolle pro Jahr zwischen Staat A und Staat B exportiert beziehungsweise importiert werden dürfen. Aber diese klassischen Fragen sind weitgehend geklärt. Seit 1948 wurde darüber im Rahmen des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) verhandelt. Die Bundesrepublik Deutschland war seit 1951 dabei. Während 1948 noch etwa die Hälfte aller Waren im internationalen Handel betroffen war, sind es heute weniger als fünf Prozent. Dieser kleine Rest würde den riesigen Aufwand, der gegenwärtig um Freihandelsabkommen gemacht wird, nicht erklären.
Angeführt von Banken und Konzernen
Seit Mitte der 1990er Jahre geht es um etwas anderes: grenzüberschreitende Investitionen. Die westlichen Banken und Konzerne, angeführt von den US-amerikanischen, errichteten im großen Stil Niederlassungen im Ausland. Deshalb wurde 1995 als GATT-Nachfolger die Welthandels-Organisation gegründet,die WTO. Seitdem geht es um Schutzrechte für Investoren, weltweite Eigentums- und Patentrechte, Privatisierung staatlicher Unternehmen und Dienstleistungen.
Deshalb entstand mit der WTO ein neuer Typ von internationalen Handelsabkommen. Es fing an mit dem nordamerikanischen Freihandelsabkommen NAFTA zwischen den USA, Kanada und Mexiko.
Unter NAFTA gründeten Konzerne in Kanada und vor allem in Mexiko Niederlassungen. US-Autokonzerne bauten in den USA eine halbe Million Arbeitsplätze ab und gründeten im grenznahen Gürtel in Mexiko Zulieferfirmen: Dort wird für vier Dollar die Stunde gearbeitet statt für 27 Dollar in Detroit. US-Agrarkonzerne kauften in Mexiko die Böden von hunderttausenden Bauernfamilien auf und errichteten riesige Agrarkomplexe für den Anbau von Mais, mit viel Technik und wenig Personal. Gleichzeitig wurden eine Million mexikanischer Bauern land- und arbeitslos.
Und nur die Investoren sind klageberechtigt
Unter NAFTA haben auch deutsche und japanische Automobil-, Elektronik- und Pharmakonzerne in Mexiko Zulieferbetriebe errichtet und aus dem Land ein Niedriglohngebiet gemacht. Durch das viele Hin- und Herschaffen von Rohstoffen und Vorprodukten wächst zwar der Handel, aber davon haben die abhängig Beschäftigten und Verbraucher in Mexiko nichts. Und auch in den USA, Deutschland und Japan werden Arbeitsplätze abgebaut.
Zu NAFTA gehören private Schiedsgerichte. Nur Investoren sind klageberechtigt. US-Firmen wie Murphy Oil verklagten Kanada wegen zu strenger Umweltvorschriften - Kanada musste Schadenersatz zahlen. Die US-Abfallfirma Metalclad verklagte Mexiko, weil ihre Giftmülldeponie nicht genehmigt wurde - Mexiko musste Schadenersatz zahlen. Bis 2015 hat Kanada sechs Klagen, Mexiko fünf Klagen verloren. Die USA hingegen haben noch keine gegen sie gerichtete Klage verloren - US-Großkanzleien beherrschen die internationale private Schiedsgerichtsbarkeit.
Ähnliches gilt für TTIP, CETA, TISA, JEFTA und auch für die Partnerschafts-Abkommen mit Afrika. Die nationalen Gesetzgeber sollen überflüssig, Profite langfristig gesichert werden. Arbeitsrechte sind nicht sanktionsfähig und können vor den Schiedsgerichten nicht eingeklagt werden.
Bundesregierung organisiert weltweites Lohndumping
Konzerne mit Hauptsitz in Deutschland gehören schon längst zu den Profiteuren. Sie nutzen den größten Niedriglohnsektor in der EU und sind Exportmeister. Diese nationalistische Politik soll weitergehen: erst europaweites, jetzt weltweites Lohndumping. Siemens, Bayer, Deutsche Post DHL und Deutsche Bahn zum Beispiel machen durch ihre Niederlassungen in den USA und rund um den Erdball mehr Umsatz und Profit als in Deutschland. Die Lufthansa - Miteigentümer ist wie bei Post und Bahn der deutsche Staat - baut ihre deutschen Technikzentren ab und lässt ihre Flugzeuge auf den Philippinen, in Puerto Rico und Bulgarien (Mindestlohn pro Stunde 1,24 Euro) reparieren. Ingenieure kriegt man dort für 600 statt für 4.000 Euro im Monat. Und Afrika soll das neue Mexiko werden. Das wird noch ein bisschen feministisch verschönt, indem man afrikanische Unternehmerinnen fördert.
Beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bekräftigt: Diese Art "Freihandel" muss weitergehen. Die EU-Führung polemisiert gegen die Abschottung der USA durch Präsident Donald Trump. Aber keine Region wird so hart abgeschottet wie die EU-Festung.
Deshalb: Auch der massenhafte Widerstand, der sich in den letzten Jahren gegen TTIP und CETA entwickelt hat, muss weitergehen. Und im Übrigen: Noch mehr Hin und Her von Rohstoffen und Vorprodukten heizt das Klima an. Im Widerstand und für die Alternativen müssen die Arbeitsrechte eine noch viel größere Rolle spielen.
Amazon, Google & Co. profitieren, Beschäftigte verlieren
Die Verhandlungen über TiSA, ein Abkommen zur weltweiten Liberalisierung von Dienstleistungen, oder TTIP, dem geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA, sind auch durch internationalen Druck ins Stocken gekommen. Vor diesem Hintergrund hat die Welthandelsorganisation (WTO) vor etwa einem Jahr die Debatte über eine weitere Liberalisierung des elektronischen Handels wieder intensiviert. Mehrere Mitgliedsstaaten, darunter die EU-Länder, die USA, Kanada und Japan, haben mittlerweile ihre Vorschläge zu neuen Regeln vorgelegt, mit denen sie in WTO-Übereinkommen bereits festgelegte Regeln aufweichen wollen.
Die Gewerkschaftsinternationale UNI, der auch ver.di angehört, geht davon aus, dass von diesen Änderungen große Anbieter wie Amazon, Google oder eBay profitieren werden. Zu den Verlierern zählt die UNI die Beschäftigten. Die Unternehmen könnten dann arbeitsrechtliche Vorschriften des Gastlandes umgehen, und es ist davon auszugehen, dass sie mehr Vertragsarbeiter/innen einsetzen. "Sie werden im Wesentlichen unsere Demokratien und unsere Menschenrechte, unsere Arbeitsplätze und unsere Datenschutzrechte negativ beeinflussen", ist das Fazit der UNI. Der Mangel an einer verantwortungsbewussten digitalen Regulierung führe zu einer nie dagewesenen Konzentration wirtschaftlicher, sozialer, technologischer und wichtiger politischer Macht.