Mohsin Hamid: Exit West

Nadia und Saeed, zwei junge Muslime aus einem unbestimmten Land im Nahen Osten, verlieben sich ineinander. Sie werden ein Paar, schmieden berufliche Pläne, malen sich eine gemeinsame Zukunft aus. Doch nach der Machtübernahme von Extremisten versinkt ihre Heimat im Chaos eines Bürgerkriegs. Schritt für Schritt verschwinden Freiheit, Menschlichkeit und Würde. Also beschließen Nadia und Saeed zu fliehen. Grenzen gibt es in diesem bewegenden Roman nicht, nur Türen. Durch diese muss jeder Flüchtling schreiten, zunächst in ein ungewisses Dunkel, um kurz danach in einem anderen Land wieder aufzutauchen. Dieser mystische Vorgang gibt dem Buch etwas Märchenhaftes. Der Kern der in naher Zukunft angesiedelten Handlung ist jedoch hochpolitisch: "Ein großer Teil des globalen Südens war unterwegs in Richtung globaler Norden", schreibt Hamid, der eine Welt voller Migranten zeigt. Nahezu alle Menschen ziehen weiter, sie sind auf der Flucht vor Krieg und Armut oder auf der Suche nach besseren Jobs. Die Reisenden entfernen sich stets aufs Neue, nicht nur von Orten, auch von Freunden, Kollegen und Verwandten.

Nadia und Saeed landen zunächst in Griechenland, später in Großbritannien und in den USA. Stets öffnen sich neue Türen, und das Paar steht vor neuen Herausforderungen. Mohsin Hamid behält seine beiden Hauptfiguren fest im Blick, und er untersucht ihre Reaktionen: Wie verändert die Flucht das Paar? Während sich Nadia optimistisch und offen den neuen Situationen anpasst, verhält sich Saeed rückwärtsgewandt. Seine Herkunft und sein Glaube gewinnen zunehmend an Bedeutung. Das Paar, das so viel gemeinsam durchgestanden hat, entfremdet sich - eine Trennung ist unvermeidlich.

Mohsin Hamid hat eine intensive Liebesgeschichte in Zeiten von Extremismus und Migration verfasst. Ein erschütterndes Szenario: die bisherige Welt bricht auseinander, Staaten lösen sich auf, Millionen Migranten flüchten, nichts ist mehr sicher. Doch Hamid ist kein Pessimist, und sein Roman keine Endzeitvision. In klarer, teils poetischer Sprache zeigt er, welche Chancen sich durch Migration ergeben. Neue Perspektiven und Bündnisse entstehen; weltweit bauen Flüchtlinge neue Gemeinschaften auf. "Die Welt geht nicht unter, sie verändert sich nur", stellt der in Pakistan geborene Autor schließlich fest. Ein kleiner Trost, immerhin. Günter Keil

DUMONT BUCHVERLAG, ÜBERSETZT VON MONIKA KÖPFER, 224 S., 22 €


Rachel Kushner: Telex aus Kuba

Kuba in den 50er Jahren. Diktatur, Korruption, Ausbeutung, Prostitution. Doch der Umsturz der Batista-Diktatur steht bevor. Im Osten der Insel bereiten die Rebellen unter Führung von Fidel Castro und Che Guevara ihren Vormarsch vor. Noch aber sind Teile der Region fest in US-amerikanischer Hand. Die ruchlose United Fruit Company und das Nickelwerk geben unerbittlich den Takt vor. Aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet die Autorin die Lebensumstände und die sich andeutenden Veränderungen in der vorrevolutionären Zeit. So aus Sicht eines strippenziehenden Showgirls, einiger zwielichtiger Geschäftemacher - und vor allem mit den wachen Augen zweier Jugendlicher aus der US-Community, die rund um die Unternehmen in der entlegenen Gegend heimisch geworden ist. Die Manager und ihre Familien machen weiter wie gehabt und zeigen teils sogar Sympathien für die Castro-Leute. Aber das findet mit der Revolution ein jähes Ende. Das Land geht seinen eigenen Weg - voller Hoffnungen, guter Absichten, aber auch Widersprüchen. Auf den letzten Seiten schlägt die Autorin eine Brücke in die Gegenwart und kommt zu der Erkenntnis, dass bei allem sozialen Fortschritt noch immer viel zu tun bleibt. Offen bleibt die Frage: Wie geht es weiter mit oder nach der Revolution? Tina Spessert

ROWOHLT VERLAG, Ü: BETTINA ABARBANELL, 461 S., 19,95 €


Walt Whitman: Jack Engles Leben und Abenteuer

New York, Mitte des 19. Jahrhunderts: Ein abgerissener kleiner Junge vagabundiert durch die Straßen von Manhattan, kreuzt beim frommen Milchhändler Ephraim Foster auf und fordert Frühstück. Sein Name ist Jack, seine Herkunft unbekannt. Weil Ephraim ein gutes Herz hat, nimmt er Jack bei sich auf und schickt ihn in die Lehre bei einem New Yorker Anwalt, der sich schon bald als korrupt und bösartig entpuppt. Das Abenteuer beginnt. Als Whitman seinen Roman 1852 als Fortsetzungsgeschichte anonym in einer New Yorker Zeitung veröffentlichte, ahnte noch niemand den Erfolg, den er nur drei Jahre später durch seinen Gedichtzyklus Leaves of grass (Grashalme) haben würde, und der ihm den Ruf des Erneuerers der amerikanischen Literatur eintragen sollte. Dem texanischen Literaturwissenschaftler Zachary Turpin ist es zu verdanken, dass wir Whitman jetzt auch als brillanten Geschichtenerzähler kennenlernen können. Turpin fand in alten Notizbüchern Beweise, dass Whitman der Urheber der fesselnden Geschichte gewesen sein muss, die von einem Helden erzählt, der der kleine Bruder von Charles Dickens' Oliver Twist sein könnte. Marion Brasch

MANESSE VERLAG, Ü: RENATE ORTH-GUTTMANN, IRMA WEHRLI, 192 S., 22 €