Koalition plant erneut eine Ausnahme in der Zeitungszustellung

Auf eine Summe von rund 7,6 Milliarden Euro beziffert das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung den Schaden, der Beschäftigten und Sozialkassen jährlich durch die Umgehung des gesetzlichen Mindestlohns entsteht. Weitere 2,3 Milliarden Euro kommen durch die Umgehung von Branchenmindestlöhnen wie dem in der Altenpflege hinzu. So kommt man auf knapp 10 Milliarden Euro, die jährlich bei Arbeitnehmer/innen und bei den Sozialkassen - und damit der Allgemeinheit - fehlen.

WSI-Forscher Toralf Pusch geht von 2,2 Millionen Arbeitnehmer/innen aus, die im Jahr 2016 pro Stunde mit weniger als 8,50 Euro Mindestlohn entlohnt wurden, der Anfang 2017 auf 8,84 Euro angehoben worden ist. Das betrifft etwa acht Prozent aller Arbeitnehmer/innen. Pro Monat kommt Pusch auf durchschnittlich 251 Euro, die den Betroffenen vorenthalten werden.

Betroffen sind 11,5 Prozent der weiblichen und 4,6 Prozent der männlichen Beschäftigten. Das liegt nach Angaben Puschs auch daran, dass Umgehungen besonders häufig in Dienstleistungsbranchen mit vielen Kleinbetrieben und Minijobs vorkommen. Auffällig seien auch die erheblichen regionalen Unterschiede. So seien im Osten Deutschlands 12,6 Prozent der Beschäftigten von der Umgehung betroffen, im Westen etwa 7,3 Prozent.

Geltende Regeln durchsetzen

Das relativ große Ausmaß der Umgehung des Mindestlohngesetzes verleitet das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zu dem Schluss, dass man vor einer weiteren Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns "zunächst die Priorität auf eine wirkungsvolle Durchsetzung der bestehenden Regeln" legen sollte. Das geht aus einer Stellungnahme hervor, die das IAB im Rahmen einer schriftlichen Anhörung zu den Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns abgegeben hat. Bis zum 30. Juni muss die Mindestlohnkommission einen Bericht über die Auswirkungen des Mindestlohns vorlegen, in den diese Stellungnahmen einfließen. Danach wird entschieden, auf welche Höhe der gesetzliche Mindestlohn Anfang kommenden Jahres angehoben werden wird.

Das IAB spricht sich in seiner Stellungnahme dafür aus, das Mindestlohnniveau "nur sehr maßvoll" anzuheben. Zwar habe die Einführung der Lohnuntergrenze zu nur sehr geringen Beschäftigungsverlusten geführt und einer "weiteren positiven Entwicklung der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung nicht" entgegengestanden, dennoch befürchten die Forscher/innen des IAB negative Auswirkungen, insbesondere auf den Arbeitsmarkt in ostdeutschen Randregionen. Da aber im Jahr 28 nach der Wiedervereinigung nichts für eine neue Lohntrennlinie zwischen Ost und West spreche, empfiehlt das IAB, in der Diskussion über eine Erhöhung Rücksicht auf das schwächste Glied zu nehmen.

Im Gegensatz dazu steht die Mitte April erhobene Forderung des brandenburgischen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke, SPD, der sich für eine Anhebung auf 12 Euro pro Stunde ausspricht. Auch ver.di macht sich für eine deutliche Erhöhung stark. Denn das WSI weist in seinem Bericht darauf hin, dass der allgemeine gesetzliche Mindestlohn mit 8,84 Euro pro Stunde derzeit deutlich unter der Niedriglohnschwelle von 10,11 Euro im Jahr 2016 liegt. Damit hat er zwar für viele Menschen eine deutliche Erhöhung ihrer Bezüge mit sich gebracht hat, bietet aber dennoch zu wenig Schutz vor Armut und auch vor Altersarmut.

Erneute Ausnahme

Zu einem weiteren Ansteigen der Altersarmut könnte auch die Umsetzung eines Passus beitragen, auf den sich CDU, CSU und SPD in ihrem Koalitionsvertrag geeinigt haben. Sie wollen den Rentenbeitrag, den Arbeitgeber für Zeitungszusteller/innen in Minijobs zu tragen haben, auf fünf Jahre befristet von 15 auf 5 Prozent absenken. Begründung: Die "Sicherung der bundesweiten Versorgung mit Presseerzeugnissen für alle Haushalte". Für Zeitungszusteller/innen hatte bis Ende vergangenen Jahres, wie für Beschäftige in einigen wenigen anderen Bereichen auch, ohnehin schon eine Ausnahme im Mindestlohngesetz gegolten, nach der niedrigere Löhne zulässig waren.