Er ist der eigentliche Favorit für die kommende Präsidentschaftswahl, Lula da Silva (oben). Gegen seine Inhaftierung gab und gibt es weiterhin zahlreiche Massenproteste

Brasilien steht am Anfang eines Superwahljahres. Im Herbst sollen der Präsident, die Gouverneure der Bundesstaaten und alle Parlamente neu gewählt werden. Doch ob das stattfindet, ist nicht sicher, und von der formellen Demokratie ist nicht viel übrig. Der Favorit auf das höchste Amt heißt eigentlich Lula da Silva. Stattdessen wurden zwölf Jahre Gefängnis gegen ihn verhängt, am 7. April hat er die Haft angetreten. Gegen das Urteil hatte es Massenproteste gegeben. Ein parteiischer Richter, der Lula da Silva mit fabrizierten Anklagen überzieht, hat ihn ohne Beweise wegen Geldwäsche und Korruption verurteilt. Auch vor höheren Instanzen findet er keine Gerechtigkeit.

Militärs drohten für den Fall, dass sein Comeback möglich bleibt, bereits öffentlich mit einem Putsch. Das Urteil gegen Lula baut auf der Erfindung auf, der Politiker sei von einem Baukonzern mit einer Luxusimmobilie bestochen worden. Dennoch ist es nicht gelungen, Lulas Reputation in den Augen großer Teile der ärmeren Bevölkerung zu zerstören, ist er für viele weiter der Hoffnungsträger.

Der Politiker von der linken Arbeiterpartei (PT) führte das Land schon einmal. Während seiner Regierungszeit (2003 bis 2010) löste er sein Versprechen eines besseren Lebens für alle Brasilianer bei Millionen Menschen ein, die aus Hunger und Elend erlöst wurden. Der Rohstoffboom an den Weltmärkten ermöglichte es dem Exportland, große Sozialprogramme aufzulegen. Menschen aus den unteren Klassen erhielten Bildungschancen. Die steigende Massenkaufkraft kurbelte die Wirtschaft an. Brasilien präsentierte sich selbstbewusst auf der Weltbühne, trieb die regionale Integration voran.

Mit den rosaroten Zeiten ist es aus, seit die vom Finanzkapital herbeigeführte globale Krise 2013 auch auf das größte Land Südamerikas durchschlägt. Mit dem Bruttoinlandsprodukt stieg auch die Korruption, die einen Filz aus Politik und Konzernlenkern seit Jahrzehnten zusammenhält. Dafür und für alle Übel, die sich in Brasilien auftürmen, machte eine Kampagne der großen privaten Medien die Arbeiterpartei verantwortlich.

Paten in hohen Kreisen der Justiz

Die reaktionäre Mehrheit im Kongress stürzte 2016 die vom Volk gewählte Präsidentin Dilma Rousseff von der PT auf Grundlage haltloser Anklagen per Amtsenthebungsverfahren. Durch den kalten Putsch, bei dem auch hohe Kreise der Justiz Pate standen, gelangte ihr Vize Michel Temer von der opportunistischen PMDB ans Ruder. Trotz handfester Korruptionsanklagen hält der sich dort bis heute. Mit in seinem Boot sitzen die Politiker aus dem traditionellen Filz. Gemeinsam legen sie sich für die im Parlament mächtigen Lobbys des großen Agrobusiness und der religiösen Fundamentalisten sowie die Law-and-Order-Fraktion in die Riemen. Die Staatsausgaben wurden für 20 Jahre gedeckelt, mit verheerenden Folgen für Bildung, Gesundheit und Soziales. Arbeitsrechte wurden per Reform eingerissen. Den geplanten Angriff auf die Renten konnte der Widerstand der Gewerkschaften - die ihn mit großen Streiks und Kampagnen beantworteten - bisher noch aufhalten. Außenpolitisch ordnet sich Brasilien wieder den Vereinigten Staaten unter.

Das Land, welches der Schriftsteller Stefan Zweig vor mehr als 80 Jahren als das "Land der Zukunft" beschrieb, ist 2018 von diesem Prädikat weit entfernt. Wirtschaft und Institutionen taumeln, öffentlich Beschäftigte warten auf ihre Löhne, Jobs fehlen und die Lebenshaltungskosten steigen. Die Hälfte der Lohnabhängigen ist auf informelle Arbeit angewiesen. Auf den Straßen der Metropolen breitet sich wieder das nackte Elend aus. 130 Jahre, nachdem Brasilien als letztes Land Lateinamerikas die Sklaverei offiziell abschaffte, sind soziale und rassistische Diskriminierung für seine Gesellschaft weiter prägend. Eine kleine, reiche, weiße Elite sieht sich weiter als das angestammte Herrenhaus, das über die Bewohner der Sklavenhütten gebietet. Ihre Ressentiments gegen die Armen und gegen Minderheiten pflanzen sich fort zu den Mittelschichten und den politisch Ungebildeten der unteren Klassen. Ein aufgeklärtes Bürgertum, eine am Fortschritt der Nation orientierte Bourgeoisie fehlen weitgehend. Besonders Frauen und Homosexuelle werden Opfer einer seit der brutalen Kolonisierung Brasiliens tief eingewurzelten Kultur der Gewalt. Zu seinen Superlativen gehört, dass es nach wie vor eines der Länder mit der ungerechtesten Verteilung seines Reichtums ist. Fünf Menschen an der Spitze der Pyramide besitzen so viel wie hundert Millionen, das entspricht etwa der Hälfte der Bevölkerung.

Vereint im Kampf für Lulas Freiheit

Seit dem Amtsantritt von Präsident Temer sind bereits 70 linke politische Aktivisten Morden zum Opfer gefallen. Vor allem Vertreter der Indigenen und der Landlosenbewegung sind im Visier von Großgrundbesitzern und deren Komplizen, die auch im Staatsapparat sitzen. Am 14. März erschütterte ein tödliches Attentat im Zentrum von Rio de Janeiro auf die schwarze Frauenrechtlerin und Stadträtin von der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL), Marielle Franco, viele Brasilianer. Die Kugeln, denen auch ihr Fahrer Anderson Gomes zum Opfer fiel, stammten aus Polizeibeständen. Hinter der Tat dürften Rios paramilitärische, mit der extremen Rechten verbandelte Milícias stecken.

Die Anwort der brasilianischen Linkskräfte in dieser Lage heißt Einheit. Anfang April erklärten fünf linke Parteien zusammen mit Massenbewegungen und Gewerkschaften ihre Zusammenarbeit in einer gemeinsamen Front zur Verteidigung der Demokratie und zur Abwehr des Faschismus. Ein gemeinsames Ziel ist auch der Kampf für Lulas Freiheit und das Recht des Volkes, über seinen künftigen Präsidenten wieder selbst zu bestimmen.