Ausgabe 03/2018
Falsche Zahlen - falsche Sichtweise
Henrik Müller war viele Jahre Redakteur bei ver.di-Publikationen
Die Debatte über das Hartz-IV-Regime mit all seinen bedrohlichen und abschreckenden Nebenwirkungen ist eröffnet. Einige führende Sozialdemokraten denken zumindest einmal darüber nach, ob es der Weisheit letzter Schluss war und ist. Erste Absetzbewegungen von ihrem letzten Bundeskanzler Gerhard Schröder und seiner "Agenda 2010" sind bei der SPD erkennbar. Unterdessen tut Gesundheitsminister Jens Spahn, CDU, so, als wisse er gar nicht, wovon die Rede ist: Mit Hartz IV habe doch jeder, was er zum Leben brauche. Und viele andere schlecht informierte Menschen glauben gar, Hartz IV bringe oft mehr, als arbeiten zu gehen. Dabei handelt es sich um eine weit verbreitete Unwahrheit zulasten von mehr als sechs Millionen Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland, denen es schlecht geht, weil sie keinen bezahlten Job und kein Vermögen haben und sich deshalb mit den als Existenzminimum gewährten staatlichen Sozialleistungen begnügen müssen.
Dennoch war im März in vielen Zeitungen, Onlineportalen und Hörfunknachrichten erneut zu lesen und zu hören: Hartz IV bringt oft mehr als ein Job. Und weiter im Text: "Hartz-IV-Bezieher haben [...] oft mehr Geld zur Verfügung als Arbeitnehmer." Wer mit Arbeit eine vierköpfige Familie ernähren wolle, so die millionenfach verbreitete Behauptung, brauche einen monatlichen Bruttolohn von mindestens 2.540 Euro, um netto das Hartz-IV-Niveau von 1.928 Euro zu erreichen, mithin "einen Stundenlohn von mindestens 15,40 Euro brutto"; bei drei Kindern einen solchen von 20 Euro.
Woher solche Zahlen stammen? "Das zeigen Berechnungen des Steuerzahlerbundes für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ)", hieß es. Und wie kommen solche "Berechnungen" bundesweit in so viele Zeitungen, Nachrichten und Onlineportale? Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) war es, die - offensichtlich ohne weitere Prüfung - bei der FAZ "abgeschrieben" und deren "Zahlen" weiterverbreitet hatte. Das Skandalöse daran ist, dass Steuerzahlerbund, FAZ, dpa und ungezählte Sender, Zeitungen und Online-Plattformen sich in einer zentralen sozialpolitischen Frage nicht einfach mal versehentlich geringfügig verrechnet hatten, was ja mal passieren kann. Sie haben vielmehr - in Größenordnungen - einige Sozialleistungen "vergessen", man könnte auch sagen: unterschlagen, auf die Arbeitnehmerfamilien neben ihrem Nettoeinkommen Anspruch haben, die bei Hartz-IV-Familien aber bereits im monatlichen Zahlbetrag enthalten sind. Und später von dpa gelieferte Korrekturen waren kaum geeignet, den einmal erzeugten falschen Eindruck zu verändern.
Der Berliner Sozialwissenschaftler und Publizist Johannes Steffen rechnet auf seinem www.portal-sozialpolitik.de vor, dass - wenn man sich auf das vorliegende Beispiel einlässt - ein alleinverdienender Arbeitnehmer mit Partner und zwei Kindern neben seinem Nettoverdienst Anspruch auf Kindergeld (388 Euro), Kinderzuschlag (340 Euro) und Wohngeld (284 Euro) hat. Um auf das Nettoeinkommen einer vergleichbaren Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft aus Eltern und zwei Kindern zu kommen, liegt demnach der erforderliche Brutto-"Stundenlohn am Ende also nicht bei 15,40 Euro, sondern bei 9,51 Euro" und bei einem Ehepaar mit drei Kindern nicht bei 20 Euro, sondern bei 8,96 Euro, also 12 Cent über dem aktuellen gesetzlichen Mindestlohn.
Umgekehrt also wird in der Debatte ein Schuh daraus: Millionen abhängig Beschäftigte in Europas größtem Niedriglohnsektor erzielen Arbeitseinkommen, die knapp über oder sogar unter dem Existenzminimum liegen, als das Hartz IV gemeinhin gilt. Nicht das Arbeitslosengeld (Alg) II ist zu hoch (im Gegenteil !), sondern die Löhne in vielen Bereichen sind zu niedrig, auch der gesetzliche Mindestlohn. Mit dieser Sichtweise sollten sich die Medien einmal ausführlicher beschäftigten, statt mit falschen "Berechnungen" Verwirrung zu stiften sowie Vorurteile, Neid und Missgunst zu fördern und sich auf diese Weise unglaubwürdig zu machen.
Immerhin: Das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) zog nach der Veröffentlichung der falschen dpa-Meldung die einzig richtige Konsequenz und erklärte auf seiner Website: "Am 19. März 2018 um 16:13 Uhr veröffentlichten wir an dieser Stelle einen Beitrag, in dem behauptet wurde, dass Hartz-IV-Bezieher unter bestimmten Bedingungen mehr Geld pro Monat zur Verfügung haben als Arbeitnehmer. Diese Aussage ist falsch." Die FAZ und der Bund der Steuerzahler hätten das Kindergeld nicht mit eingerechnet. "Die Kernaussage der Berechnung stimmt deshalb nicht. Den Text haben wir aus diesem Grund gelöscht. Dass wir diese Meldung in unserem Angebot hatten, bedauern wir und bitten um Entschuldigung."
Nicht das Arbeitslosengeld II ist zu hoch, sondern die Löhne sind in vielen Bereichen zu niedrig