Inzwischen heiß begehrt bei Streikaktionen aller Fachbereiche: Die effizienten Klemmbrettaktivist/innen aus Hamburg sammeln sich vor dem Gewerkschaftshaus

„Ich bin schon ver.di-Mitglied. Aber frag doch mal meine Kollegin da drüben, ob die nicht eintreten will.“ Das ist eine typische Antwort, die Rüdiger Tölg oft hört, wenn er bei einem ver.di-Streik neue Mitglieder wirbt. Gezielt geht der 68-Jährige auf Gruppen von Streikenden zu, die sich offenbar kennen, zumeist aus dem gemeinsamen Betrieb. „Wenn in dem Kreis jemand steht, der noch nicht gewerkschaftlich organisiert ist, dann wissen das meistens die umstehenden Kollegen.“ Und nicht selten liefern die Kolleginnen und Kollegen von sich aus die Argumente, warum es klug ist, hier und jetzt das Eintrittsformular auf Rüdigers rotem Klemmbrett zu unterschreiben.

Die Gelegenheit ist günstig, denn wer zu einer Streik-Kundgebung geht, der weiß, dass er von der Arbeit der Gewerkschaft profitiert. Und er hat schon einen wesentlichen Schritt getan, indem er sich aktiv an der Kundgebung beteiligt, anstatt auf dem Sofa zu sitzen. „Diese positive Grundstimmung und die Bereitschaft zur Aktivität wollen wir nutzen“, sagt Petra Reimann, die stellvertretende Landesbezirksleiterin. Sie hatte die Idee und konnte die Seniorinnen und Senioren dafür gewinnen.

Mut gehört dazu

Eine freiberufliche Trainerin schulte die 16 ver.di-Senior/innen einen Tag lang für eine angemessene Ansprache der Streikenden, für das freie Sprechen generell und das souveräne Auftreten. „Für die Kontaktaufnahme hat mir die Schulung sehr geholfen“, sagt Ruth Sanio-Metafides: „Es ist nicht so einfach, mit einer Werbebotschaft auf wildfremde Menschen zuzugehen.“ Seitdem die 67-Jährige einen roten Faden für ihre Botschaft habe – eigentlich sogar mehrere rote Fäden, je nach Gegenüber und Situation – sei sie mutiger geworden einfach mal zu sagen: „Werden Sie doch Mitglied!“

Die Sozialpädagogin gehört zu dem harten Kern, zu den sechs Workshop-Teilnehmer/innen, die bis heute dabei geblieben sind. Erstmals ist die Truppe der Klemmbrettaktivist/innen – so lautet längst ihr inoffiziell-offizieller Name am Besenbinderhof, dem Hamburger Gewerkschaftshaus – bei einer Kundgebung während der Tarifrunde für den öffentlichen Dienst im Winter 2016 in die Öffentlichkeit gegangen. Während die Beschäftigten von Bund und Gemeinden Hamburgs Flaniermeile Jungfernstieg in ein rotes Fahnenmeer verwandelt haben, trafen sich die Senior/innen und auch Petra Reimann mit Klemmbrett unterm Arm und suchten die Nicht-ver.dianer unter den Streikenden.

Armin Peter, mit 79 Jahren der Senior der Klemmbrettaktivisten, hat seine eigene Strategie der Kontaktaufnahme: Er spricht Einzelpersonen an. Gerade aus kleinen Betrieben kommt oftmals nur eine Person zum Streik. Die fühlt sich womöglich verloren in der Masse. „Wenn ich auf diese Menschen zugehe, freuen sie sich häufig.“ So gibt der ehemalige Einzelhändler der anonymen Gewerkschaft ein freundliches Gesicht. Mit Erfolg: „Ich hatte gleich am ersten Tag vier Eintritte. Das war natürlich eine kolossale Motivation zum Weitermachen.“

Rollt der Demo-Zug an, ist es zu spät

Rüdiger Tölg, der bewusst auf Gruppen zugeht, hatte anfangs Schwierigkeiten, die Leute in der orangenen Signalkleidung anzusprechen. „Für mich, der ich immer bei einer Versicherung gearbeitet habe, sind die Leute von der Stadtreinigung zunächst Fremde gewesen.“ Durch die Schulung hat er gelernt, dass er vor allem Mut braucht, um jemanden anzusprechen. Und den richtigen Ton: „Als ich die ersten Ver- und Entsorger vom Fachbereich 2 mit Sie angeredet habe, waren die verdutzt. Heute spreche ich jeden selbstverständlich mit Du an.“ Gegensätzlich die Erfahrung von Gerd Lütjens: „Die Finanzdienstleister/innen vom Fachbereich 1 waren irritiert, als ich sie mit Du angesprochen habe.“ Der 71-Jährige hat Zeit seines Lebens im öffentlichen Dienst gearbeitet.

Ob das kumpelhafte Du oder das respektvolle Sie: Im Allgemeinen stoßen die Klemmbrettaktivist/innen auf eine sehr positive Grundstimmung. Natürlich tritt längst nicht jede Person sofort der Gewerkschaft bei. „Ich bin doch schon hier, das reicht doch wohl“, ist ein Satz, den die Senior/innen gelegentlich hören. „Diesen Leuten erwidere ich, dass solche Streikaktionen nur dank der zahlenden Mitglieder möglich sind“, sagt Ruth Sanio-Metafides, die Juniorin der Gruppe. Daraus würden sich häufig tolle Gespräche ergeben, weil die Menschen viele Fragen hätten, etwa zum Arbeitsrecht oder zu Tarifverträgen. Halt zu den klassischen Gewerkschaftsthemen. „Leider haben wir keine Zeit, das alles zu beantworten. Wir wollen schließlich Mitglieder werben.“

Das Zeitfenster dafür ist recht klein, höchstens eine Stunde lang, während der sich die Streikenden sammeln. „Sobald sich der Zug in Bewegung setzt, funktioniert unsere Werbung nicht mehr“, weiß Ruth Sanio-Metafides. Ihr Eindruck: „Wer an einer Mitgliedschaft interessiert ist, der tritt dann auch direkt vor Ort ein. Dafür reicht die kurze Zeit.“

Es sei denn, jemand scheitert an dem umfangreichen Eintrittsformular. Das hat Armin Peter durchaus schon erlebt: „Dieses Formular sollte ver.di unbedingt vereinfachen“, fordert er. Nicht jeder kenne seine Lebensaltersstufe auswendig, oder seine Besoldungsgruppe. Ganz zu schweigen von der 34-stelligen IBAN. Siegrid Karrasch, 73, vom Fachbereich 5 für Bildung, Wissenschaft und Forschung: „Ich sage den Leuten dann auch schon mal: Name und Telefonnummer, Datum und Unterschrift reichen fürs Erste. Alles andere fragen dich die ver.di-Kolleginnen und -Kollegen per Telefon ab.“

Prämie in Kaffee oder Bier umgesetzt

Insgesamt haben die Klemmbrettaktivisten schon über 70 neue Mitglieder geworben. Besonders erfolgreich sind sie bei den Streiks der Fachbereiche der Sozialberufe, den klassischen Frauenberufen, etwa bei den Erzieher/innen und Pfleger/innen, die niedrig bezahlt und hoch gefordert werden. Auf die Werbeprämie von 15 Euro, die sie theoretisch beanspruchen könnten, verzichten die Klemmbrettaktivisten. Statt dessen tragen sie eines der umstehenden ver.di-Mitglieder ein. Nicht selten wird die Prämie nach der Streikaktion gemeinsam in Kaffee oder Bier umgesetzt. „Ist doch super“, sagt Siegrid Karrasch, „wenn die Prämie dafür sorgt, dass die neue Kollegin gleich Kontakt zu erfahrenen Gewerkschafter/innen bekommt.“

Inzwischen werden die so erfolgreichen Senior/innen mit den roten ver.di-Käppis von den verschiedenen Fachbereichen für ihre anstehenden Streikaktionen angefragt. Beim jüngsten Streik im öffentlichen Dienst sind sie sogar von den Veranstaltern über Mikro angekündigt worden. „Und tatsächlich sind einzelne Mitarbeiter des bestreikten Krankenhauses auf uns zugekommen und haben gefragt: Wo können wir unterschreiben?“, berichtet Siegrid Karrasch.

Das Highlight der Klemmbrettaktivist/innen war im Frühjahr 2017 der Streik des Fachbereichs 1 für Finanzdienstleistungen, als sie in einer halben Stunde 15 Neumitglieder geworben haben. „Das war ein tolles Gefühl“.

Erfolge zu haben, macht Spaß

Dieses Gefühl würden sie gerne mit weiteren ver.di-Seniorinnen und -Senioren teilen. Womöglich Anfang nächsten Jahres etwa, wenn die Tarifpartner für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst der Länder in den Tarifring steigen. Sollten die Beschäftigten ihre Forderungen dann mit einem Streik unterstreichen müssen, dann sind die Seniorinnen und Senioren von ver.di mit Sicherheit wieder mit ihren roten Klemmbrettern unterwegs. Bis dahin teilen sie gerne ihre vielfältigen Erfahrungen, in Hamburg und auch bundesweit, mit ver.dianern und durchaus auch mit Senior/innen der anderen Einzelgewerkschaften unter dem Dach des DGB, wie Petra Reimann betont.