Links: Plattenbauviertel Stolipinowo – das Armenhaus von Plovdiv. Rechts: Die Ausbildungsplätze für Roma-Frauen in der Nähwerksatt in Stolipinowo sind sehr begehrt

Sonntagmorgen. Die Sonne taucht das Kreativ-Quartier Kapana in goldenes Licht. Die Barbesitzer stellen ihre Stühle raus. In der „Katz und Maus“-Bar und nebenan im CU 29 mit der kleinen Kunstgalerie zischen die Kaffeemaschinen. Die ersten Gäste sitzen draußen auf Sesseln, Bistrostühlen und Holzbänken. Der milde Wind spielt mit den bunten Wimpeln, die – an Schnüren aufgespannt – über den Kopfsteinpflaster-Gassen flattern.

Morgens ist Vaselina hier genauso entspannt wie alle anderen Plovdiver. Sie nennen es „Aylak“, was ein besonders intensives Lebensgefühl beschreibt. Für Vaselina ist es die „Fähigkeit, das Leben zu genießen – ganz in dem Moment aufgehen, in dem du gerade bist“. Die 33-jährige Marketingfachfrau arbeitet für „Lost in Plovdiv“, einen Online-Stadtführer mit Lokalzeitung und eigenem Blog. Wie fast alle jungen Leute hier spricht sie fließend Englisch. Viele haben im Ausland gelebt oder studiert. Nun kommen sie zurück.

Vera zum Beispiel. In Plovdiv habe sie „so viele Möglichkeiten“. Auf ihrer Internetseite Green Revolucja, grüne Revolution, verkauft sie abfallfreie Produkte: wiederverwendbare Trinkhalme aus Metall, Naturkosmetik und Shampoo in Gläsern oder Zahnbürsten aus Bambus, die sie selbst entwirft. Bulgarien sei „für Start-Ups ideal“, sagt Vera, die in England Public Relations studiert hat. Überall im Land habe man schnelles Internet. Die Steuern seien niedrig. Weil es nirgends Bio-Waschmittel im Glas gab, fragte die quirlige Jungunternehmerin eine Bekannte, ob sie so etwas herstellen könne. Inzwischen arbeiten die beiden zusammen.

2012 hatte die Stadt beschlossen, das verfallene, fast verlassene ehemalige Handwerkerviertel am Rande der Innenstadt wieder zu beleben. Die Verwaltung begann, leer stehende Läden für ein Jahr kostenlos an Unternehmensgründer zu vergeben. Viele renovierten selbst, eröffneten Kneipen, Clubs, Restaurants, Designerläden, Boutiquen oder Geschäfte für ausgefallene Souvenirs. Das Konzept ist aufgegangen. Die Leute kommen selbst aus der Hauptstadt Sofia zum Einkaufen, Feiern, Entspannen, Musik hören und wegen der Kunst. Valizar zum Beispiel hat zusammen mit seinen Eltern eine Bar aufgemacht und den Kellerraum zur Galerie umgebaut. Viele Ausstellungen organisiert er bewusst nicht. Gezeigt wird, was die Künstler bringen.

Eine Ahnung von Integration

Den „real existierenden Sozialismus“ wünschen sich die wenigsten Plovdiver zurück, auch wenn es damals, jedenfalls offiziell, keine Arbeitslosen gab. Nach 1989 haben sich einige Wenige das einstige „Volkseigentum“ unter den Nagel gerissen. Bitter war die sogenannte Wende vor allem für die Roma, die zu Ostzeiten zumindest einfache Jobs zugewiesen bekamen. Sie erhielten eine Ahnung davon, was Integration bedeuten könnte. Ihre Arbeitsstellen sind heute verschwunden.

Kulturhauptstadt Plovdiv in neuem Licht

Im Plattenbauviertel Stolipinowo am Stadtrand leben mehr als 50.000 der Roma. Der deutsche Journalist Mirko Schwanitz unterstützt dort seit den 1990er Jahren eine Lehrwerkstatt, in der Frauen aus der Siedlung das Nähen lernen.

Hinter einem bewachten Tor stehen ocker-grau-braune, bröckelige Betonwürfel um eine zertretene Rasenfläche. Gebaut wurde das Areal vor 1989 für behinderte Menschen, die hier wohnen und arbeiten. Lange Flure führen zu einem Saal mit Nähmaschinen, an denen sechs junge Frauen sitzen. Sie unterhalten sich und scherzen in einer Sprache, die wie Türkisch klingt. Bulgarisch sprechen die meisten von ihnen kaum. Die Frage nach ihrem Lebenstraum beantworten sie mit verständnislosen Blicken. Sie möchten nur einen Beruf lernen, Arbeit finden und ihr eigenes Geld verdienen.

Die meisten Roma-Männer schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch, handeln mit allem Möglichen, arbeiten bei der Müllabfuhr oder als Straßenkehrer. Schätzungen zu Folge können nahezu 80 Prozent der Roma in Stolipinowo weder lesen noch schreiben.

Projektleiterin Maria erzählt von vielen Interessentinnen, die die sechsmonatige Näherin-Ausbildung mitmachen möchten. Oft bestünden jedoch die Ehemänner darauf, dass ihre Frauen zuhause bleiben. Dennoch gebe es mehr Bewerberinnen als Plätze. Und Unternehmen stünden Schlange, um die Absolventinnen einzustellen. Das sei einmalig in Bulgarien. Trotzdem bekomme man kein Geld, weder vom Staat noch von der Stadt. Die Gemeinde hat den „Zukunftsnäherinnen“ nur das Gebäude mietfrei überlassen. Renovieren mussten sie selbst.

An der matschigen Ladenstraße von Stolipinowo schrauben Männer an alten Autos. Andere verkaufen Hausrat auf dem Bürgersteig oder in winzigen Läden. Es gibt die in Bulgarien beliebten kleinen Kioske, die von Zigaretten über Kekse, Wasser, Bier und billigen Wein bis hin zu Klopapier alles für den Alltag anbieten.

Auf der Suche nach Arbeit

Am Rand der Siedlung trotzen aus rohen Ziegeln, Holz, Plastikresten und Wellblech selbstgezimmerte Hütten dem Regen: illegale Bauten, die die Bewohner immer wieder abreißen müssen, um sie dann schnellstmöglich wieder aufzubauen. Viele sehen nicht ein, dass sie eine Baugenehmigung benötigen, oder es fehlt ihnen dafür das Geld. Wasser holen viele aus dem nahen Fluss. Strom zapfen sie von einem der umstehenden Hochhäuser. Am Straßenrand liegen Berge von Müll. Dazwischen spielen Kinder. Ein Mann um die 40 fragt: „Aus Deutschland?“ Er war auf der Suche nach Arbeit im Ruhrgebiet und ist nun wieder zurück. „Hier alles Scheiße: kein Geld, kein Essen, kein Trinken, keine Arbeit“, schimpft er.

Neli, die am Rande von Stolipinowo aufgewachsen ist, arbeitet heute bei der Stiftung, die das Europäische Kulturhauptstadtjahr 2019 in Plovdiv organisiert. Sie erinnert sich an ihre Kindheit in den 90ern. Mit den Roma hatten weder sie noch ihre Eltern ein Problem. „Das waren ganz normale Nachbarn, wie alle anderen auch.“ Damals sei Rassismus kein Thema gewesen. Die Europäische Kulturhauptstadt 2019 will die Roma mit verschiedenen Projekten „zurück in die Stadtgesellschaft“ holen. Da hat sie sich viel vorgenommen.

Roma

Im Mittelalter kamen die Roma (Rom = Mensch) vermutlich aus Indien nach Südosteuropa, wo viele von ihnen blieben. Als Nomaden zogen sie mit Wagen durch die Landschaft und lebten vor allem von Handwerksarbeiten und Kleinhandel, die schon lange niemanden mehr ernähren.

Heute leben schätzungsweise zwölf Millionen Roma in der Europäischen Union, die meisten von ihnen auf dem Balkan. Trotz millionenschwerer Programme der Europäischen Union kommt die Integration von Europas größter Minderheit kaum voran. Wer mit Roma spricht, erhält ein differenzierteres Bild: Ihre angeblich mit europäischen Sitten und Werten unvereinbare „Kultur“ ist vor allem in Osteuropa ein Teufelskreis aus Armut und fehlender Bildung. Einer Studie von 2016 zufolge leben in Bulgarien 86 Prozent der Roma unter der Armutsgrenze, 30 Prozent in absoluter Armut. Die Lebenserwartung der Roma liegt um zehn Jahre unter dem Landesdurchschnitt.

In der „Zukunftsnäherei“ von Plovdiv lernen Frauen aus der Roma-Gemeinde in Stolipinowo das Nähen an gespendeten alten Nähmaschinen. Während Unternehmen qualifizierte Kräfte suchen, haben neun von zehn Roma-Frauen in Bulgarien keine Berufsausbildung. 70 Prozent sind arbeitslos, viele können kaum oder gar nicht lesen und schreiben. Zuhause sprechen sie eine Mischung aus Türkisch, Bulgarisch und Romanes. In der Ausbildung lernen sie auch Bulgarisch.

Weitere Infos auch zu dringend benötigten Spenden unter dem Stichwort Zukunftsnäherei auf betterplace.org


Infos

www.plovdiv2019.eu

Tourist Info: www.visitplovdiv.com

Tourismusportal Bulgarien: www.bulgariatravel.org

Blogs

Plovdiver Reise- und Infoseiten mit eigenem Blog aus der und über die Stadt auf Bulgarisch und Englisch:lostinplovdiv.com/enmadamebulgaria.com mit mehreren Beiträgen aus und über Plovdiv