Ausgabe 02/2019
Auf dem Weg zum Geisterhafen?
Kein Mensch zu sehen weit und breit – dennoch steht dem Containerhafen in Bremerhaven die Automatisierung erst noch bevor
Jeden Morgen eine steile Stahlsprossen-Leiter hochklettern, bis hinauf in 15 Meter Höhe; dann in einer fast rundum verglasten Kabine Platz nehmen, mit einem Glasboden, der den Blick in die Tiefe fallen lässt: Wer hier arbeitet, sollte schon einigermaßen schwindelfrei sein. Stefan Gritzmacher ist einer von rund 500 schwindelfreien Männern (und wenigen Frauen), die als Beschäftigte des Logistikkonzerns Eurogate im Containerhafenterminal von Bremerhaven ihren speziellen Beitrag zur Aufrechterhaltung des Welthandels leisten: als Fahrer von sogenannten Van Carriern (VC). Gritzmacher und all die anderen steuern jene hochbeinigen Fahrzeuge, die ein bisschen wie überdimensionale Regale auf Rädern aussehen – auf acht Rädern, um genau zu sein.
Kleine Fortbildung für Landratten
Solche Portalhubwagen sind zum Beispiel dafür da, Container von Lastwagen zu heben und zu einem Zwischenlagerplatz zu bringen. Dafür nehmen sie die Blechboxen quasi zwischen ihre Beine. Am Lager stapeln sie die Container in bis zu drei Schichten übereinander. Deshalb die Hochbeinigkeit.
Und wenn dann ein Frachter anlegt, geht das Gewusel wieder los, diesmal aber richtig: Jetzt transportieren Gritzmacher und seine Kollegen die zwischengeparkten Container zur Kaimauer, und zwar massenhaft, denn manche modernen Überseeschiffe schlucken mehr als 20.000 Container der 20-Fuß-Klasse. Kräne mit langen Auslegern, die sogenannten Containerbrücken, versenken die von den VC herbeigeschafften Exportgüter im Bauch des Frachters oder bauen daraus ein Metallgebirge an Deck.
Beim Import läuft das Ganze umgekehrt: Erst die Blechboxen per Kran von Bord holen; dann mit dem VC zum Stapelplatz bringen; und schließlich ab zum Weitertransport ins Binnenland.
Natürlich werden Linienschiffe nicht in jedem Hafen komplett ent- oder beladen, aber ein paar tausend Container pro Schiffsanlauf müssen da durchaus bewegt werden. Das macht allein in Bremerhaven jährlich 5,5 Millionen TEU, wie die Fachleute sagen. Kleine Fortbildung für Landratten: TEU heißt „Twenty Foot Equivalent Unit“, ist also eine Maßeinheit auf der Basis eines 20-Fuß-Containers. Ein 40-Fuß-Container, und davon gibt es viele, entspricht demnach 2 TEU.
Stefan Gritzmacher
24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche: Der Containerterminal Bremerhaven schläft nicht, er brummt rund um die Uhr. Stefan Gritzmacher ist seit 1989 dabei. Bei seiner einsamen Arbeit hoch oben in der gläsernen VC-Kanzel darf man ihm nicht zuschauen. Aber im Eurogate-Betriebsratsbüro, im „Gatehouse III“, da erzählt der schnauzbärtige 52-Jährige ausführlich davon. Auch hier trägt er seine orangene Warnweste. Sie ist für Hafenarbeiter fast zur zweiten Haut geworden.
„Ich fahre nur auf Tagesschicht“, sagt Gritzmacher. Wenn er morgens zur Arbeit kommt, schaut er als erstes: „Welche Maschine habe ich?“ Dann besteigt er seinen Van Carrier, kontrolliert den Motor, meldet sich per Funk bei der Leitstelle an und bekommt seine Aufträge auf einen Bildschirm überspielt: Container Nummer sowieso von Lastwagen sowieso zu Stapelplatz sowieso bringen und dort in der Reihe sowieso abstellen. Im Sommer ist es ihm manchmal zu heiß, im Winter zu kalt, trotz Heizung. Gute Aussicht hat er zwar, aber keine Zeit, sie zu genießen.
Wie ferngesteuert
Siebeneinhalb Stunden dauert seine Schicht – abzüglich zwei Pausen à 45 Minuten. Die verbringt er nicht hoch oben, sondern er klettert sofort die 15-Meter-Leiter hinunter und macht Platz für die Ablösung. Zeit ist Geld, auch beim teuren Fuhrpark.
Wenn man all die Van Carrier aus der Ferne über den Containerterminal gleiten sieht, dann wirkt es so, als würden sie von einer unsichtbaren Macht ferngesteuert, nach einer undurchschaubaren Choreographie. Erst bei genauerem Hinsehen entdeckt man ganz oben die kleinen Fahrerkabinen. Aber in Wilhelmshaven, 25 Kilometer Luftlinie westlich von Bremerhaven, da sind neuerdings tatsächlich fahrerlose VC unterwegs – wenn auch nur vier Stück und nur als Forschungsobjekte.
In Wilhelmshaven betreibt Eurogate einen Containerterminal wie in Bremerhaven und Hamburg, nur deutlich kleiner. 2012 wurde hier Deutschlands erster Tiefwasserhafen für Containerschiffe eröffnet, der Jade-Weser-Port, kurz JWP. Er bekam schnell den Spitznamen „Geisterhafen“. Denn bisher haben die Reedereien das Milliardenprojekt noch nicht recht angenommen, und deshalb herrschte am JWP vor allem in den Anfangsjahren oft gespenstische Ruhe.
Verschiedene Ortungstechnologien
Aber dafür lässt es sich hier gut experimentieren: Das Bremer Universitätsinstitut für Produktion und Logistik (BIBA) erforscht neuerdings gemeinsam mit Eurogate, ob sich die Van Carrier auch ohne Fahrer steuern lassen. Das Bundesverkehrsministerium fördert das einjährige Projekt „STRADegy“ mit 9,5 Millionen Euro. Warum „STRADegy“? Weil Van Carrier auch „Straddle Carrier“ genannt werden.
Die führerlosen Modelle am JWP dürfen sich auf einem abgetrennten Testgelände beweisen, mit Leercontainern als Spielmaterial abseits des eigentlichen Hafenbetriebs. Eine der Herausforderungen: „Setzen sie die Container auch wirklich dort ab, wo wir sie hinhaben wollen?“ So erzählt es Steffen Leuthold, der Pressesprecher von Eurogate. „Erstmal fahren sie nur ein paar Meter.“ Aber später wird auch das Zusammenspiel mit den Containerbrücken erprobt.
Bemanntes Fahrzeug – noch gibt es Van Carrier, die nicht ferngesteuert sind
Die unbemannten Vehikel sehen fast genauso aus wie die bisher üblichen – nur ohne Fahrerkanzel. Wie die Technik im Einzelnen funktioniert, verrät im Moment niemand. BIBA-Mitarbeiter Stephan Oelker spricht nur allgemein von einer „Kombination verschiedener Ortungstechnologien“. Man darf vermuten, dass damit vor allem Radarsensoren und Navigationssysteme wie GPS oder Galileo gemeint sind.
Die Konkurrenz in Rotterdam und bei der Hamburger HHLA arbeitet schon sehr viel länger mit führerlosen Fahrzeugen, nämlich seit der Inbetriebnahme neuer Containerhäfen in der Maasvlakte 1993 und in Hamburg-Altenwerder 2002. Es sind allerdings keine Portalhubwagen, sondern nur flache Tieflader ohne Führerhaus, die mit Spezialkränen beladen werden. Damit sie sich auf dem Gelände orientieren können, wurden Tausende von Transpondern in den Terminalboden eingelassen. Die neuen Straddle Carrier am JWP kommen dagegen ohne solche Steuerungshilfen aus und sind dadurch flexibler einsetzbar, wie BIBA-Wissenschaftler Oelker erläutert.
Aber können automatische Systeme tatsächlich genauso präzise und schnell arbeiten wie ein erfahrener Mensch? „Schwer zu sagen“, findet VC-Fahrer Gritzmacher. Immerhin verfügt er über Fähigkeiten, die die Maschinen erst lernen müssen, zum Beispiel die räumliche Orientierung und „ein bisschen Feingefühl“, damit man die Container „nicht so hart ablässt“. Gritzmacher weiß noch nicht recht, wie lange es wohl dauert, „bis die soweit sind und so schnell arbeiten wie wir“. Aber: „Irgendwann ist das dann soweit.“
Damit Leute wie er dann nicht gleich die Arbeit verlieren, hat der Betriebsrat schon vor Jahren Regeln für kommende Automatisierungen und Digitalisierungen gefordert. ver.di nahm dieses Anliegen so ernst, dass es schließlich auf höchster Ebene landete, beim Bundesfachgruppenleiter für Maritime Wirtschaft, Torben Seebold. Keine bloße Betriebsvereinbarung sollte dabei herauskommen, sondern ein richtiger Tarifvertrag zwischen dem ver.di-Bundesvorstand und dem Eurogate-Konzern mit seinen über 4.600 Beschäftigten in Bremerhaven, Hamburg und Wilhelmshaven.
„Tarifvertrag Zukunft“
Den Vertrag gibt es jetzt tatsächlich. Karl-Heinz Dammann, seit 2009 Vorsitzender des Konzernbetriebsrats, sagt: „Das ist eine Art Pilotvertrag mit ausstrahlender Wirkung für alle ver.di-Logistikbereiche.“
Der „Tarifvertrag Zukunft“ – so heißt das seit Januar gültige Regelwerk – trägt den Untertitel „Automatisierung sozial und mitbestimmt gestalten“. Was das im Einzelnen bedeutet, lässt sich auf 15 Seiten plus Anlagen nachlesen. Die Präambel benennt ungeschönt die Ausgangslage: „Automatisierungsmaßnahmen werden voraussichtlich den gesamten Konzern oder Konzernteile erfassen.“ Zwischen den Zeilen schimmert durch, dass sich daran nichts mehr ändern lässt, wenn Eurogate konkurrenzfähig bleiben soll. Aber die Folgen abmildern, das zumindest soll der Vertrag gewährleisten. Er schafft sozusagen Leitplanken.
Damit die Belegschaft nicht von Neuerungen überrumpelt werden kann, sieht das Regelwerk zunächst die Bildung einer paritätisch besetzten „Automatisierungskommission“ vor. Sobald Eurogate irgendwelche Automatisierungen plant, muss die achtköpfige Kommission darüber informiert werden. Sie beschließt dann jeweils ein „Nachhaltiges Personalkonzept“ – mit Dreiviertelmehrheit, sonst zählt es nicht. Darin wird festgeschrieben, mit welchen Instrumenten die Folgen der Automatisierung „bestmöglich“ gestaltet werden sollen.
Vielfältig wie ein Zahnarztbesteck
Diese „Regelungsinstrumente“ sind ungefähr so vielfältig wie ein Zahnarztbesteck. Konzernbetriebsrat Dammann blättert im Vertrag und fasst die wichtigsten Punkte zusammen:
- Abbau von Mehrarbeit, also „die Arbeit auf mehr Schultern verteilen“, wie Dammann sagt.
- Angebot gleichwertiger offener Stellen auch an anderen Eurogate-Standorten.
- Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
- Angebote für Altersteilzeit.
- Anspruch auf Weiterbildung oder Umschulung, um die Betroffenen fit zu machen für neue Anforderungen am bisherigen Arbeitsplatz oder für einen Wechsel auf eine andere Stelle.
- Ausgleichszahlungen für eine Versetzung an einen anderen Arbeitsort: 12.000 Euro pauschal plus Umzugskostenbeihilfen.
- Entgeltsicherung beim Wechsel auf einen Arbeitsplatz mit eigentlich niedrigerem Einkommen: Fünf Jahre lang fließt weiterhin das alte Salär. Danach sind zwar Kürzungen erlaubt, aber nur in Maßen: bei Verwaltungskräften um maximal 15 Prozent, bei den anderen um höchstens zwei Lohngruppen, was etwa auf dasselbe hinausläuft.
- Jahrelanger Kündigungsschutz: „Der Arbeitgeber verzichtet bis zum 31.12.2025 auf betriebsbedingte Beendigungskündigungen aus Anlass von Automatisierungsmaßnahmen“, heißt es in Paragraph 11. Der neue Tarifvertrag schützt die Arbeitsplätze zwar nicht vor einer neuerlichen Weltwirtschaftskrise wie 2008, aber immerhin vor Maschinen wie etwa den selbstfahrenden Portalhubwagen. Falls die erst ab 2022 in den Regelbetrieb gehen, verlängert sich der Kündigungsschutz bis Ende 2026.
- Abfindungen: Sollten aber doch irgendwann die ersten Entlassungen fällig werden, dann haben die Betroffenen Anspruch auf ansehnliche Abfindungen.
Jörn Schepull, Karl-Heinz Dammann
Um all diese Leitplanken festzuzurren, musste ver.di harte Verhandlungen führen, erinnert sich Konzernbetriebsratschef Dammann. „Sie waren so hart, dass sie durchaus zu scheitern drohten.“ Was waren denn die Knackpunkte? Neben Dammann sitzt Betriebsratsmitglied und Vertrauensleutesprecher Jörn Schepull (43) und antwortet: „Alles das, was Geld kostet.“
Wie in einem Computerspiel
Lange gerungen wurde auch um die womöglich drohende Fernsteuerung von Containerbrücken. Bisher sitzen die Kranführer in ihrer Kanzel und bewegen ihre Lasten per Joystick. In einem vollautomatisierten Terminal in Australien sitzt niemand mehr in der Kanzel; dort werden die Kräne wie in einem Computerspiel aus der Ferne gesteuert, ebenfalls per Joystick, aber in einer Zentrale auf den Philippinen. Ein solch extremes Outsourcing darf es bei Eurogate laut Tarifvertrag nicht geben: wenn schon Fernsteuerung, dann zumindest innerhalb des Betriebsgeländes. „Hafenarbeit den Hafenarbeitern“, steht dazu passend auf einem ver.di-Plakat an der Wand des Betriebsratsbüros. Um die Ecke hängt ein weiteres Poster: „#Digital muss sozial.“
Und? Haben sich die harten Verhandlungen gelohnt? „Wir sind in einem fließenden Prozess“, antwortet Dammann. „Es wird sich zeigen, ob wir alles bedacht haben.“
Der 59-Jährige mit grauem Vollbart und knallgrünem Pullover ist fest im Hafen verwurzelt. 1985 fing er bei der überwiegend kommunalen Bremer Lagerhaus-Gesellschaft (BLG) an. Das ist der traditionsreiche Hafenbetreiber für Bremen und Bremerhaven, der 1999 zusammen mit dem Hamburger Privatunternehmen Eurokai die Firma Eurogate gründete, um dorthin sein Containergeschäft auszulagern. Eurogate ist keine kleine Klitsche, sondern nach eigenen Worten „Europas größte reederei-unabhängige Containerterminal- und Logistikgruppe“.
Als Hafenfacharbeiter, VC-Fahrer und seit 1998 als Betriebsrat hat Dammann hautnah verfolgt, wie sich der Umschlag nach und nach verändert hat. Der größte Umbruch war allerdings vor seiner Zeit: die Verdrängung von Sackkarren und Gabelstaplern durch den Container in den 1960er und 1970er Jahren. Verglichen damit sind es eher kleinere Veränderungen, die Dammann miterlebt hat. Zum Beispiel haben die Van Carrier ihr Einsatzgebiet vergrößert: Bis vor ungefähr 20 Jahren, so erinnert er sich, wurden Container innerhalb des Hafengeländes noch mit Zugmaschinen hin und her gefahren. Inzwischen haben die Hubportalwagen auch diese Aufgabe übernommen.
Wie wird es bei Eurogate in zehn Jahren aussehen? „Das ist schwer abschätzbar“, sagt Vertrauensmann und Betriebsrat Schepull. „Die Technik schreitet so schnell voran.“ Wegrationalisieren werde man ihn wohl nicht. „Aber der Arbeitsplatz wird sich definitiv verändern.“ Vielleicht sitzt auch er eines Tages mit Joystick am Büro-Monitor statt oben auf der Containerbrücke. Aber zumindest droht keine Fernsteuerung von den Philippinen.
Die Automatisierung ist nicht aufzuhalten
Und während draußen das Sturmtief „Bennet“ über den Terminal fegt, sagt Konzernbetriebsrat Dammann: „Wir können den Zug der Automatisierung und Digitalisierung nicht aufhalten. Aber wir können ihn begleiten, sozialverträglich begleiten.“
Der „Tarifvertrag Zukunft“: Er ist ein Begleiter in stürmischen Zeiten.