Überlastungssituationen besser sofort dem Arbeitgeber mitteilen

Das Amtsgericht Göppingen verurteilte eine Krankenschwester zu einer einjährigen Freiheitsstrafe auf Bewährung, weil sie in einer hektischen Nachtschicht Medikamente verwechselt hatte. Zwei Menschen starben, drei wurden verletzt. In dem Verfahren blieb unbestritten, dass die Krankenschwester in der Nacht, so das Gericht, unter einer erheblichen Arbeitsbelastung und unter Zeitdruck gestanden habe. Trotzdem wurde nur sie verurteilt und nicht die Klinik.

„Damit ist es amtlich, in einer Überlastungssituation bekommen die Pflegekräfte alleine die Verantwortung“, sagte Irene Gölz, bei ver.di in Baden-Württemberg für das Gesundheitswesen zuständig. Das Urteil unterstreicht die Notwendigkeit, dass Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger in Überlastungssituationen immer eine Gefährdungsanzeige stellen müssen, um sich zu schützen. Im Ernstfall werden sie sonst vom Arbeitgeber im Stich gelassen.

Gisela Neunhöffer von der ver.di-Bundesverwaltung bezeugt ihr Mitgefühl für die Angehörigen der verstorbenen Patienten. Zugleich gehöre die Solidarität aber auch den tausenden Kolleginnen und Kollegen, die Tag und Nacht im Stress der Überlastung durch Unterbesetzung den gleichen Fehler machen könnten wie die eingangs erwähnte Krankenschwester.

ver.di-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler weist auf einschlägige Studien hin, die nachweisen, dass Patienten nicht sterben müssten, wenn es mehr Personal geben würde. „Der enorme Zeitdruck in Kliniken ist eine massive Gefahr“, sagt sie. Auch im Fall der verurteilten Krankenschwester habe die Staatsanwaltschaft eine „erhebliche Arbeitsbelastung“ und einen hohen Zeitdruck erkannt, dem die Pflegerin während der Nachtschicht ausgesetzt gewesen sei.

Die Staatsanwaltschaft widerspricht damit auch der Klinikleitung, die behauptet hatte, es sei ausgesprochen ruhig auf der Station zugegangen. Trotzdem gibt die Ermittlungsbehörde allein der Pflegekraft die Schuld und leitete kein Verfahren gegen die Verantwortlichen der Klinik ein. Für diesen Schritt habe sie „keinen Anfangsverdacht für ein Organisationsverschulden“ des Arbeitgebers erkannt.

Auch die Politik muss dringend handeln

ver.di sieht neben den Kliniken auch die Politik in der Verantwortung, die dringend handeln müsse. „Mit den Pflegepersonaluntergrenzen hat Bundesgesundheitsminister Spahn den Personalnotstand faktisch legitimiert“, sagt Sylvia Bühler. „Die Kliniken müssen per Gesetz zu ausreichend Personal verpflichtet werden. Maßstab muss der Pflegebedarf der Patientinnen und Patienten sein.“

Der Zusammenhang zwischen Personalausstattung und Versorgungsqualität sei wissenschaftlich erwiesen, betont auch Gisela Neunhöffer. Pflegekräfte berichteten immer wieder davon, dass es bei Alleinarbeit, insbesondere auf großen Stationen, deutlich häufiger zu gefährlichen Situationen komme. Davor müssten die Patientinnen und Patienten, aber auch die Beschäftigten geschützt werden. Und das sei auch möglich durch verbindliche und am tatsächlichen Pflegebedarf orientierte gesetzliche Personalvorgaben mit einer entsprechenden Finanzierung.

Pflegekräften sowie auch allen anderen Beschäftigten im Sozial- und Gesundeitswesen empfiehlt Gisela Neunhöffer, Überlastungssituationen bei ihrem Auftreten zu Beginn der Schicht dem Arbeitgeber mitzuteilen. Geschieht das zu spät, könnte er argumentieren, dass er nicht eingreifen konnte, weil er nichts gewusst habe. Dass aber Arbeitgeber auf Gefährdungsanzeigen sogar mit Bestrafungen reagierten, sei ungeheuerlich, so Gisela Neunhöffer. Damit wälzten sie ihre Verantwortung auf die Beschäftigten ab.

Erst kürzlich hatte das Landesarbeitsgericht Niedersachsen das Asklepios-Klinikum Göttingen zu einer Rücknahme von Abmahnungen gegen zwei Krankenpflegerinnen verurteilt, die mit Gefährdungsanzeigen auf ihre Arbeitsüberlastung hingewiesen hatten. Laut Paragraf 16 des Arbeitsschutzgesetzes haben nämlich Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer „jede von ihnen festgestellte unmittelbare erhebliche Gefahr für die Sicherheit und Gesundheit (...) unverzüglich zu melden“. Schon aus der Formulierung „von ihnen festgestellte“ ergibt sich, dass die persönliche Einschätzung der Beschäftigten entscheidend ist.

Dem Arbeitgeber die Gefährdung anzeigen

Wollen Krankenpflegerinnen und Krankenpfleger bei Fehlern durch Zeitnot und Arbeitsüberlastung nicht alleine zur Verantwortung gezogen werden, ist es dringend erforderlich, dem Arbeitgeber die Gefährdung anzuzeigen, und zwar unmittelbar und nicht erst, wenn Not an Mann und Frau ist, damit er Maßnahmen ergreifen kann oder die Verantwortung der Folgen der Unterbesetzung übernehmen muss. Ein handschriftlicher Hinweis mit dem Datum, Zeitpunkt und Darstellung der Situation aus persönlicher Sicht genügt.