Ausgabe 03/2019
Friede braucht Gerechtigkeit
Werner Rügemer ist freier Autor und Publizist
Der Vertrag von Versailles, der 1919 den 1. Weltkrieg beendete, regelte nicht nur die Reparationen, die das Deutsche Reich zu zahlen hatte. Im Teil XIII „Arbeit“ hieß es: Der Weltfrieden ist nur möglich auf dem Boden sozialer Gerechtigkeit. Deshalb muss unter anderem geregelt werden: die Höchstdauer des Arbeitstags und der Arbeitswoche, Verhütung der Arbeitslosigkeit, Löhne für angemessene Lebensbedingungen, Schutz gegen allgemeine und Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle, Freiheit des gewerkschaftlichen Zusammenschlusses – Prinzip: „Die Arbeitskraft ist keine Handelsware.“ Gegründet wurde auch die Internationale Arbeitsorganisation, International Labour Organization, ILO. In deren Sofortprogramm stand: 8-Stunden-Tag, wöchentliche Ruhezeit 24 Stunden, Lohngleichheit von Mann und Frau bei gleichwertiger Arbeit. Schon diese ersten Forderungen, ein Jahrhundert alt, haben auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt, nicht zuletzt in den reichsten Staaten wie Deutschland.
Die ILO bekam beim Völkerbund in Genf ihren Sitz. Dort steht seit 1919 auf dem Gebäude das Motto: „Wenn du Frieden willst, sorge für Gerechtigkeit.“ Die Anfänge in den 1920er Jahren wurden bald erstickt. Eine Blütezeit erlebte die ILO nach dem 2. Weltkrieg: Sie gehört seitdem zu der weit mächtigeren und glaubwürdigeren Völkerrechtsorganisation UNO. Die dort 1948 verabschiedeten Allgemeinen Menschenrechte beinhalten zum ersten Mal auch soziale und Arbeitsrechte, beginnend mit dem Recht auf Arbeit. Dies hat die ILO wesentlich gestärkt. Sie hat heute 187 Mitgliedsstaaten.
Die ILO hat bisher 189 Arbeitsrechte beschlossen, Normen genannt. Am bekanntesten sind die acht Kern-Normen, vor allem das Recht auf freie Vereinigung und kollektive Tarifverhandlungen, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit und die Abschaffung der Zwangsarbeit. Weniger bekannt, teils auch bei Gewerkschaften, sind weitere Arbeitsrechte: Auskömmlicher Lohn, der eine Familie würdig ernähren kann, bezahlter Urlaub und bezahlte Weiter-bildung, Kündigungsschutz (auch für Schwangere und Behinderte), Schutz vor Gefahren am Arbeitsplatz, Sozialversicherungen, Rechte für Migranten und Hausangestellte. Die Normen der ILO klingen gut, sind aber heute wieder weit von der Realisierung entfernt. Schon bei der Gründung 1919 waren sie ein Zugeständnis der Siegermächte, die zum Ende des Krieges selbst mit immer stärkeren Arbeiterbewegungen konfrontiert waren, nicht zuletzt auch der sozialistischen Revolution 1917 in Russland. „Die Arbeit ist keine Handelsware“ – dieses Prinzip wurde deshalb von Anfang an aufgeweicht: Die Siegermächte, auch die USA, genehmigten sich Ausnahmen, auch für die Kolonien und ausländischen Territorien.
Genauso machten die Unternehmer in Deutschland nach dem Krieg Zugeständnisse mit dem 8-Stunden-Tag und der Legalisierung von Gewerkschaften und Betriebsräten. Aber das wurde bald scheibchenweise infrage gestellt, auch international, mit den kurzfristigen Ausnahmen der 1930er Jahre: Die Volksfrontregierung in Frankreich brachte erstmals den bezahlten Urlaub, der New Deal in den USA stellte Belegschaftsvertretungen unter staatlichen Schutz und führte den gesetzlichen Mindestlohn ein. Bis zum Ende des Sozialismus war die ILO im Aufschwung. In den UN-Sozialpakt von 1966 als völkerrechtlichem Vertrag gingen die wichtigsten ILO-Normen ein. Auch die westeuropäischen Staaten ratifizierten den Vertrag – aber alle haben ihn mit Hilfe der EU vergessen und verdrängt. Die vier Hartz-Gesetze im Deutschland der 2000er Jahre, dann der um Jahrzehnte verzögerte Mindestlohn, zudem ein Armutslohn – das hat mit der ILO nichts zu tun. Die EU verweist in den Freihandels-Verträgen wie CETA, TISA, TTIP, JEFTA und den EPAs mit afrikanischen Staaten lustlos auf die Kern-Normen der ILO, aber sie sind im Unterschied zu den Rechten der privaten Investoren nicht einklagbar, und die vielen weiteren Normen der ILO fehlen ganz.
Und EU, Europäische Zentralbank und Weltbank verletzen bei der Rückzahlung staatlicher Kredite gezielt Arbeits- und Gewerkschaftsrechte, lassen die Militärhaushalte unangetastet, wie in Griechenland. Gleichzeitig rüstet die EU auf Kommando des nationalistischen, rassistischen Niedriglohnförderers im Weißen Haus zusätzlich auf. Arbeitsunrecht und Arbeitsarmut breiten sich weiter aus. „Wer den Frieden will, sorge für Gerechtigkeit“ – diese aus Weltkriegen gewonnene Erkenntnis, dieses Motto der ILO ist so aktuell wie nie.