Ehab Badwi und Ahmad Afyouni beim Online-Studium

„Nachdem ich meinen Universitätsabschluss in den Händen hielt, sollte ich kämpfen“, sagt Ahmad Afyouni. Nicht um einen Job. Der 28-Jährige kommt aus Aleppo. Studenten dürfen zwar auch in Kriegszeiten ihr Studium in Syrien beenden. Doch nach dem Abschluss müssen sie der Armee beitreten. „Ich wollte aber nicht töten“, sagt Ayouni. Und so beschloss er im Jahr 2015, sein Land zu verlassen. Wie tausende seiner Landsleute ist auch er aus Syrien in den Libanon gereist und von dort aus in die Türkei geflogen. Schlepper brachten ihn mit einem Boot über das Mittelmeer nach Griechenland. In der EU angekommen, lief Afyouni über die sogenannte Balkanroute bis nach Deutschland. Seine Bachelor-Urkunde nahm er mit bis in die Türkei. „Ich ließ sie bei einem Freund, der die Urkunde dann mit der Post nach Deutschland schickte, als ich ankam.“ Sein Ziel war klar: weiter studieren.

Doch das war gar nicht so einfach. Die Bürokratie in Deutschland versperrt vielen Menschen einen schnellen Zugang zu Bildung. Bevor der Aufenthaltsstatus nicht geklärt ist, ist es unmöglich, sich an einer Hochschule zu immatrikulieren. „Viele müssen bis zu zwei Jahre auf ihre Aufenthaltsgenehmigung warten“, sagt Tobias Ernst von der Kiron Open Higher Education. Ein wahnsinniger Zeitverlust. Und genau dort setzt das Social StartUp Kiron an, das von drei Berlinern gegründet und zunächst durch ehrenamtliche Mitarbeiter*innen am Laufen gehalten wurde.

Seit 2015 bietet die gemeinnützige Organisation geflüchteten Menschen durch digitale Mittel einen kostenlosen Zugang zu Hochschulbildung. Es ging den Gründern von Kiron vor allem darum, geflüchteten Menschen die Möglichkeit zu geben, ihre Hochschulbildung weiterzu- führen – auch wenn sie in einem Flüchtlingscamp sitzen oder auf die Bearbeitung ihres Asylantrages warten.

Die Hindernisse für Bildungsinteressierte fangen in Deutschland bei der Residenzpflicht an. Nicht alle Geflüchteten sind an einem Ort untergebracht, an dem es auch eine Hochschule gibt. So landete auch Ahmad Afyouni zunächst in Goldberg, einer Kleinstadt mit rund 4.000 Einwohnern im Osten Deutschlands. Dort verbrachte Ahmad sehr viel Zeit mit Warten: auf die Genehmigung seiner Sprach- und Integrationskurse, die dann etwa zwei Busstunden entfernt stattfanden, und vor allem auf seinen Asylbescheid. Anfang 2017 erwähnte einer der Lehrer dann Kiron und dass man da studieren könne. „Ich habe gleich gegoogelt, was das ist“, erinnert sich Ahmad. Er bewarb sich sofort und belegte mehrere Online-Kurse, während er auf seine Asylpapiere wartete.

Alles, was er brauchte, um an den Onlinekursen teilnehmen zu können, war ein internetfähiges Endgerät. Die Kiron bietet fünf Studienfächer an, unter anderem Informatik, Wirtschaft und Ingenieurwissenschaften. Die Online-Kurse – sogenannte Massive Open Online Courses (MOOCs) – werden von Kooperationsuniversitäten veranstaltet. Dazu gehören etwa die Universität Rostock, die RWTH Aachen und weitere Hochschulen in Deutschland, aber auch Harvard, Stanford oder Yale in den USA. Sie alle haben der Kiron zugesichert, die MOOCs der Student*innen nachträglich anzuerkennen.

Derzeit sind 6.100 Studierende auf der Bildungsplattform angemeldet. 2.100 von ihnen leben in Deutschland. Etwa die Hälfte der Studierenden sind Syrer*innen. Die Bildungsplattform wird unter anderem vom Bildungsministerium und von der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) unterstützt.

Ein ganz normaler Student

„Der Zugang zu Hochschulbildung muss für geflüchtete Menschen ebenso möglich sein wie zu Arbeit und zu Ausbildung“, sagt Romin Khan, Referent für Migrationspolitik bei ver.di. Die Kiron leiste einen wichtigen Beitrag dazu, dass bereits erlangte Fähigkeiten und Kompetenzen von Flüchtlingen erhalten und gefördert werden. Das helfe bei der Integration, so Khan.

Kiron-Mitarbeiter*innen im Berliner Büro der Online-Universität

Ahmad Afyouni hat inzwischen den Wechsel an eine richtige Universität geschafft. Heute studiert er im letzten Semester Wirtschaftsinformatik an der Universität Rostock und ist bereits Werkstudent in einer IT-Firma. „Ich muss meine Masterarbeit schreiben, aber ich traue mich nicht anzufangen“, sagt er und lacht. Er ist ein ganz normaler Student in Deutschland.

Oft gehe es einfach um eine Möglichkeit der neuen Selbstbeschreibung im fremden Land, sagt Tobias Ernst. „Man ist dann nicht mehr der Flüchtling, sondern der Student.“ Das stabilisiere die Persönlichkeit der Menschen und öffne sie, was dann wiederum für die Integration im neuen Land sehr wichtig sei. Das Studium soll aber nicht als Selbstzweck gesehen werden, sondern definitiv als Schritt in den Arbeitsmarkt. Denn die Existenzsicherung für Geflüchtete ist wichtig. Oftmals unterstützen sie ihre Familien und Freunde im Heimatland.

In Zukunft Politologe

Die Chancen für einen Übergang nach dem Studium in den Arbeitsmarkt stehen gut. So zeigt eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung, dass die Zahl der Arbeitskräfte immer weiter abnimmt, gleichzeitig aber immer weniger Zuwanderer aus den europäischen Nachbarländern nach Deutschland kommen. Eine Zuwanderung aus Drittstaaten wird also immer notwendiger für den deutschen Arbeitsmarkt. „Migration ist ein zentraler Schlüssel zu einer gelingenden Zukunft. Deutschland braucht Fachkräfte – auch aus Regionen außerhalb Europas“, heißt es in der Studie. Auch fordere ein zunehmend digitalisierter Arbeitsmarkt nicht – wie oft angenommen – weniger Arbeitskräfte, sondern mehr Fachkräfte mit hoher Qualifikation, etwa Techniker, Meister, Akademiker und Ingenieure.

Das weiß auch Ehab Badwi. Der 26-jährige Syrer lebt seit 2015 in Deutschland. Er stammt aus Homs und studierte dort Maschinenbau. Auch er sollte wie Ahmad nach dem Abschluss in die Armee eingezogen werden. „Ich wollte weiter studieren, doch das wurde mir nicht erlaubt“, sagt Ehab. Vor allem aber wollte er nicht in den Krieg ziehen.

„Bildung ist mir sehr wichtig“, sagt der junge Mann. „Ich hatte solche Angst davor, in einem Flüchtlingslager festzuhängen – ohne Arbeit, ohne Universität, eben ohne Zukunftsaussichten.“ Und so überlegte Ehab, wie er es dennoch aus Syrien herausschaffen könnte. Im Jahr 2013 konnte er einen Job bei der US-Hilfsorganisation UNHCR ergattern, die in Syrien humanitäre Hilfe leistete. Dank seiner dort gesammelten Arbeitserfahrungen bewarb er sich beim UNHCR auf einen Job an der Elfenbeinküste. Von dort ging es fürs UNHCR nach Istanbul, dann nach Genf. Nachdem sein Job ausgelaufen war, fuhr er mit dem Zug nach Deutschland. Durch sein Schengenvisum, das er inzwischen besaß, war das kein Problem mehr.

Es hat dann noch eineinhalb Jahre gedauert, bis sein Asylantrag genehmigt wurde. „Ich musste also irgendetwas finden, um mich zu beschäftigen, zu integrieren“, sagt Ehab. Er fand Kiron und schrieb sich sofort in die Fachrichtung Politologie ein. Das Gute an der Bildungsplattform sei auch, dass man nicht den offiziellen Studentenstatus habe, sagt er. Denn dann würde man kein Geld mehr vom Sozialamt oder Jobcenter bekommen. Das erleichtert vielen den Schritt, sich einzuschreiben.

Auch er hat den Wechsel an eine richtige Universität durch die Anrechnung seiner Kiron-Kurse erfolgreich gemeistert. Heute studiert er am Bard College Berlin Politologie. Gleichzeitig arbeitet er bei Kiron und macht neuen Studierenden Mut. Die erreicht er besonders gut über die sozialen Medien. „Leute, ihr seid wirklich Helden! Ich habe drei Kurse abgeschlossen und werde weitermachen. Danke!“, schreibt dort ein neuer Kiron-Student aus Syrien unter einem von Ehabs Posts.

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