Ausgabe 06/2019
Der Mann aus dem Eis
Hendrik Otremba: Kachelbads Erbe
Los Angeles, Mitte der 80er Jahre. Der Wissenschaftler H.G. Kachelbad friert für das Unternehmen Exit U.S. Menschen ein, die im Heute nicht mehr leben können. Kryonik heißt das (in den USA, Russland und China tatsächlich praktizierte) Verfahren, das der Hypothese folgt, man könne der eigenen Sterblichkeit ein Schnippchen schlagen, indem man sich erst dann wieder auftauen lässt, wenn Krankheiten besiegt sind und das Altern aufgehalten werden kann. Doch die Menschen, die zu Kachelbad kommen, glauben weniger an die eigene Unsterblichkeit – sie sind Getriebene ihrer persönlichen Geschichten. Darunter ein ebenso genialer wie glückloser Schriftsteller, eine kanarische Sängerin, die Tochter von Zeitreisenden, ein vietnamesischer Auftragskiller, eine ukrainische Wissenschaftlerin. Sie alle suchen Kachelbad auf, um zu „kalten Mietern“ zu werden und aus sehr unterschiedlichen Gründen aus der Welt zu verschwinden. Und noch etwas haben sie gemeinsam: die Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen. Auch Kachelbad selbst beherrscht diese Kunst, und so werden er und seine Gefährten zu einer verschworenen Gemeinschaft, bis die Existenz des Unternehmens auf dem Spiel steht. Es fehlt nicht nur an Geld, um die Tanks mit dem nötigen Stickstoff zu versorgen, es sind ihnen auch gefährliche Gestalten auf den Fersen, die Kachelbads Erbe zu vernichten drohen.Hendrik Otremba führt die ungewöhnlichen Lebensgeschichten seiner Figuren auf meisterhafte Weise zusammen, indem er sie entweder selbst erzählen oder andere berichten lässt, wie etwa die junge Rosary, die von Kachelbad zur Wächterin über die Tanks gemacht wird, oder der namenlose junge Mann, mit dem der alte Wissenschaftler die letzten Jahre verbringt. Nur Kachelbads Geschichte selbst bleibt rätselhaft. Woher kommt dieser Mann, der Menschen durch die Zeit und aus einem Jahrhundert retten will, das geprägt ist durch Kriege, Krankheiten und Katastrophen? Otremba gibt darauf keine Antworten, ebenso wie sein Roman sich entzieht, einer Zeit oder einem Genre zugeordnet zu werden, denn er ist Realität und magischer Realismus und erzählt gleichzeitig von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – das alles auf sehr atmosphärische und zeitlos schöne Weise. Kachelbads Erbe ist aus dem leuchtenden Stoff, aus dem Weltliteratur entsteht: faszinierendes Gedankenspiel, Wissenschaft, Poesie, Philosophie, Magie. Marion Brasch
Verlag Hoffmann & Campe, 432 S., 24 €
Karen Köhler: Miroloi
Diese brillante Parabel auf Unterdrückung und Freiheit spielt auf einer abgeschotteten Insel. Dort gibt es weder Strom noch Autos oder Medien. Die Gesetze in dem primitiven Dorf werden ausschließlich von Männern gemacht; Frauen haben keinerlei Rechte. Wer gegen die Regeln verstößt, wird schwer bestraft. Das Meer trennt die Bewohner vom Rest der Welt, dem „Drüben“, das unerreichbar bleibt. Eine junge Frau hinterfragt jedoch die Traditionen – nachdem sie heimlich Lesen und Schreiben gelernt hat, lehnt sich auf, und sie verliebt sich. Damit begibt sich die Außenseiterin in tödliche Gefahr. Die Lektüre dieses Romans weckt düstere Assoziationen: An Regionen, in denen Frauen die Menschenrechte vorenthalten werden. An Staaten, in denen Gehirnwäsche praktiziert wird. An Gesellschaften, die von religiösen Schriften dominiert werden. Alle Regeln auf der fiktiven Insel berufen sich etwa auf die „heilige Schrift der Götter“, die „Khorabel“. Karen Köhler schreibt schwebend und leicht, intensiv und eindringlich. Und auf zahlreichen Seiten lauern literarische Überraschungen. Entscheidender ist allerdings der Inhalt, aus dem sich ein starkes Plädoyer für Freiheit und Selbstbestimmung entwickelt. Günter Keil
HANSER VERLAG, 464 S., 24 €
Rita Falk: Guglhupfgeschwader
„Du, Franz, ich brauch dringend deine Hilfe", flüstert der Lotto-Otto dem Eberhofer ins Ohr und versaut ihm den Samstagabend mit Langzeit-Gspusi Susi. Dabei könnte er sich so schön feiern lassen. Denn Niederkaltenkirchen will, dem erfolgreichen Dorfgendarm zu Ehren, den Kreisverkehr in Richtung Frontenhausen auf den Namen „Franz-Eberhofer-Kreisel“ taufen. Stattdessen muss er sich darum kümmern, dass den brutalen Verfolgern vom Lotto-Otto das Handwerk gelegt wird. Ottos Problem ist erheblich. Er hat Spielschulden, und mit 60.000 Euro nicht zu knapp. Seine Gläubiger setzen ihn unter Druck. Mit wem er es zu tun hat, weiß der Lotto-Otto nicht so genau. Aber es scheint, dass Polizisten dabei sind. Bevor der Dorfsheriff die Ermittlungen aufnehmen kann, geht der gesamte Lotto-Laden in die Luft. Und jetzt hat er es auch noch mit einem Mord zu tun. „Ich wollte einfach mal wieder ein Kapitalverbrechen, eine geschmeidige Geldwäsche oder sowas“, verrät Kultautorin Rita Falk über ihren Jubiläumsband. Dass der bayerische Antiheld dauernd zu kurz kommt, wenn die Oma ihren legendären Guglhupf bäckt, ist der kulinarische Running Gag. Das Rezept wird wie immer mitgeliefert. Luitgard Koch
dtv, 320 S., 15,90 €