Ausgabe 08/2019
Traurigkeit und Wut vermischen sich
Um 7 Uhr aufstehen, Tasche packen, 9 Uhr 10 am Bahnhof ankommen, schnell noch ein Käffchen, um 9 Uhr 36 Abfahrt mit dem Zug nach Kassel. Umsteigen, um 13 Uhr 07 Ankunft in Erfurt. Zum Glück gibt's Google Maps. Zügig zum Opera Hostel. Wir, die Teilnehmer*innen des Buchenwald-Seminars, werden bereits mit Obst und Müsli-Riegeln erwartet. Einchecken, Zimmer beziehen. Um 15 Uhr starten wir mit einer kleinen Vorstellungsrunde. Anschließend gehen wir auf einen Krimirundgang mit Frau Marple durch Erfurt. Mit ihr erleben wir die dunkle Seite der Stadt, gruselige Orte und geheimnisvolle Gassen. Wir lauschen Geschichten über die Kriminalfälle von gestern und heute. Es gab schon immer ziemlich verrückte Täter*innen, und es gibt sie immer noch. Es ist kalt und regnet, wir schmunzeln manches Mal, schütteln ein anderes Mal den Kopf, wir grübeln. Am Abend fahren wir mit dem Bus in den tiefsten Wald. Alles ist noch gruseliger nach den Schauergeschichten von Frau Marple. Doch im Wald erwartet uns ein leckeres Abendessen. Dass es tagsüber noch düsterer werden kann, ist mir noch nicht bewusst.
Kalter Wind
Am nächsten Morgen geht es schnellen Schrittes Richtung Bahnhof und mit dem Zug nach Weimar. Von dort aus weiter mit dem Bus hoch in die Gedenkstätte Buchenwald. Wir halten auf einem großen halbrunden Parkplatz. Ich sehe Gebäude, die zwar einen freundlichen Anstrich haben, aber aussehen wie Kasernen. Das ganze Gelände ist sehr grün und idyllisch, fast schon schön mit den vielen Bäumen, mit den Geräuschen von knackenden Ästen und dem Gesang der Vögel.
Trotz Sonnenscheins und auf dem Ettersberg scheinbar immer kalt wehenden Windes versuchen wir nachzuvollziehen, wie die Häftlinge den Lageralltag erlebten, wie das Konzentrationslager aufgebaut war und funktionierte, und mit welch unmenschlicher Grausamkeit das SS-Wachpersonal die ihnen ausgelieferten Menschen behandelte.
Nach Durchschreiten des Tores mit der Aufschrift "Jedem das Seine" – einer höhnischen Verwendung des römischen Rechtsspruches durch die Nationalsozialisten – eröffnet sich uns ein anderer Blick auf das Gelände, welches keine erhaltenen oder rekonstruierten Häftlingsbaracken mehr aufweist. Doch eine Foto-Ausstellung sowie eine Ausstellung mit Kunst von Häftlingen bietet die Möglichkeit, sich ein Bild vom Aussehen der nicht erhaltenen Gebäude zu machen.
Erschreckende Tatsachen
Erhalten sind hingegen die Wachanlagen mit Stacheldrahtzaun. An Gräben und Wachtürmen wird anschaulich erläutert, dass eine Flucht für die eingesperrten Menschen unmöglich gewesen ist und einzelne Gefangene das Vortäuschen eines Fluchtversuches als spezielle Form des Suizids wählten. Neben diesen erschreckenden Tatsachen sorgt das in Sichtweite der Umzäunung befindliche Bärengehege des Zoos für die SS-Wachmann-Familien bei uns für angewidertes Erstaunen. Wir können nicht verstehen, wie man mit seinem kleinen Kind spazieren gehen kann, einen Braunbären ansieht und direkt daneben die abgemagerten, elenden Körper der Häftlinge in ihren gestreiften Anzügen hinter dem hohen Drahtzaun wahrnimmt.
Das Krematoriumsgebäude durchqueren die meisten von uns schweigend; im Nachbau der Genickschussanlage verschlägt es uns die Sprache ob der unerträglichen Auswüchse der grausamen Verbrechen der Nationalsozialisten. Traurigkeit und Wut vermischen sich beim Anblick der noch sichtbaren Zeugnisse der schrecklichen Methoden, mit denen die Nazis gegen Häftlinge vorgingen. Unmenschlichkeit ist das treffendste Wort für die Taten des NS-Regimes und seiner Handlanger.
Auch der alte Steinbruch ist ein Ort von Verzweiflung und Qualen. Junge und Alte, sogenannte Asoziale, Homosexuelle und andere, von den Nazis "kategorisierte" Menschen schufteten dort, Menschen, die es nach der Denkweise der Nazis nicht wert waren, zu leben. Dieser Ort sagt mir aber auch, wie die Menschen früher einfach weggeguckt haben, da man an dieser Stelle eine gute Sicht nach unten hat und genauso von unten nach oben. Es konnte auch nicht gerade leise gewesen sein.
Eigenes Handeln reflektieren
Unsere Wege führen uns auch hoch zum Glockenturm. Nach einem etwas längeren Aufstieg sind wir am Mahnmal. Dieser Ort ist so schön, dass er schon fast unschuldig wirkt. Der Turm ist sehr beeindruckend, ebenso sind es die Figuren vor dem Turm. Sie stellen Inhaftierte da, die für ihre Freiheit gekämpft haben. Der Ausblick hoch oben vom Turm ist wundervoll. Anschließend setzen wir uns auf die Treppenstufen, die zum Turm führen. Wir hören einfach nur in uns hinein.
Wir können stets Fragen stellen, die Tage mitgestalten, forschen und diskutieren. Wir haben die Chance, ausgetretene Denkpfade zu verlassen und unser eigenes Handeln zu reflektieren. In der Kreativwerkstatt haben wir mit einem selbst ausgesuchten Projekt (Zeichnen, Arbeiten mit Gips, Werken mit Ton oder mit dem Schreiben von Erlebnisberichten u.v.m.) zusätzlich Raum und Zeit, das Erlebte zu verarbeiten, und später die Möglichkeit, es im Nachgang allen, die nicht dabei sein konnten, im Betrieb vorzustellen.
Durch die intensive Beschäftigung mit dieser Zeit, insbesondere der Unterdrückung und Vernichtung politisch Andersdenkender und rassistisch Verfolgter, fühle ich mich nach fünf Tagen in der Lage, die Geschichte kritisch und sachlich zu beurteilen und damit auch die Gegenwart besser zu begreifen. Gerade die NS-Herrschaft kann in ihren Auswirkungen auf unsere Zeit kaum überschätzt werden. Diese Bildungsfahrt lässt niemanden unberührt.
Das Horaz-Zitat "Non omnis moriar" ist in Buchenwald auf einem Gedenkstein bei einem der noch sichtbaren Grundrisse der Häftlingsbaracken zu lesen: "Ich werde nicht ganz sterben" – genauso wenig darf die Erinnerung an das unmenschliche Unrecht ganz vergehen. Auch in Zukunft müssen sich junge Menschen dieser dunklen Phase der deutschen Geschichte stellen und die Erinnerung daran bewahren. Auf dass nie wieder solche Unmenschlichkeit geduldet werde.
Gegen das Vergessen
Jugendlichen heute wurde lange genug vorgeworfen, sie seien unpolitisch und interessierten sich schon gar nicht für Gesellschaft und Geschichte. ver.di Jugendliche reisen seit Jahren unter anderem in das ehemalige Konzentrationslager und die heutige Gedenkstätte Buchenwald, um sich mit der deutschen Geschichte und den Greueltaten der Nationalsozialisten auseinanderzusetzen. Sie stellen sich der Vergangenheit, den Schrecken, oft genug ihrem eigenem Entsetzen, um Worte zu finden für das, was nur schwer zu verstehen ist. Und wenn sie Worte gefunden haben, erheben sie ihre Stimmen. Was sie zu sagen haben, steht auf diesen Seiten.
Petra Welzel