Ausgabe 07/2019
Hartz IV wankt
Das Bundesverfassungsgericht rüttelt kräftig an einer der tragenden Säulen der neoliberalen Agenda-Politik: Nach 15 Jahren Hartz-IV-Regime hat Karlsruhe die vom Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) detailliert festgelegten Strafvorschriften gegen unbotmäßige "Kund*innen" der Jobcenter teilweise für verfassungswidrig erklärt und mit sofortiger Wirkung außer Kraft gesetzt.
Grundlage dieser einstimmig ergangenen Entscheidung des Ersten Senats unter Vorsitz von Vizepräsident Stephan Harbarth waren Fragen, die das Sozialgericht Gotha dem höchsten deutschen Gericht bereits im Jahre 2015 vorgelegt hatte, nämlich ob die SGB-II-Regelungen mit dem Grundgesetz vereinbar seien, nach denen Hartz-IV-Berechtigte bei sogenannten Pflichtverstößen mit der Kürzung ihrer Unterstützungsleistungen bis auf null sanktioniert werden dürfen.
Das Thüringer Gericht hatte dabei die Auffassung vertreten, die Regelungen seien verfassungswidrig, weil es "in einem Sozialstaat undenkbar, unzulässig und verfassungswidrig" sei, "soziale Hilfen komplett zu versagen und Bedürftige gegebenenfalls hungern zu lassen". Es verdeutlichte, welche Folgen die Unterschreitung des vom Staat selbst definierten Existenzminimums haben könne: körperliche Mangelerscheinungen bis hin zum Tod, Depressionen bis hin zur Selbsttötung.
Mit seinem Urteil vom 5. November 2019 bestätigte das Bundesverfassungsgericht nun unter dem Aktenzeichen 1 BvL 7/16, der Gesetzgeber dürfe zwar existenzsichernde Leistungen des Staates an die Bedingung knüpfen, dass ihre Bezieher*innen "zumutbare Mitwirkungspflichten zur Überwindung der eigenen Bedürftigkeit" erfüllen, wie es in einer Pressemitteilung heißt. Der Staat dürfe auch "die Verletzung solcher Pflichten sanktionieren, indem er vorübergehend staatliche Leistungen" entziehe. Dafür gelten laut Gericht "allerdings strenge Anforderungen der Verhältnismäßigkeit", der ansonsten weite "Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers" sei hier beschränkt.
Unvereinbar mit dem Grundgesetz seien allerdings Sanktionen, durch die "die Minderung nach wiederholten Pflichtverletzungen innerhalb eines Jahres die Höhe von 30 Prozent des maßgebenden Regelbedarfs übersteigt oder gar zu einem vollständigen Wegfall der Leistungen führt". Für verfassungswidrig erklärte der Senat zudem die für alle Leistungsminderungen vorgegebene starre Dauer von drei Monaten und die zwingende Vorschrift, Hartz-IV-Leistungen bei Pflichtverletzungen selbst dann zu kürzen, wenn dadurch außergewöhnliche Härten entstehen.
In diesem Zusammenhang betonte Vizepräsident Harbarth, bei der verfassungsrechtlichen Bewertung der Sanktionen spiele eine entscheidende Rolle, dass bislang keine umfassende wissenschaftliche Untersuchung ihrer Wirkungen vorlägen, obwohl sie im gleichen Gesetz ausdrücklich ("regelmäßig und zeitnah") vorgeschrieben seien: "Die mündliche Verhandlung", rügte Harbarth, "und die vielen Stellungnahmen in diesem Verfahren haben gezeigt, dass sich hier im Tatsächlichen viele noch unbeantwortete Fragen stellen."
Nach der Urteilverkündung in Karlsruhe sprach Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, von einer "weisen und sehr ausgewogenen" Entscheidung, die er schnell umsetzen wolle. Über einige unmittelbar notwendige Änderungen werde es noch im Laufe des gleichen Tages Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit und den Bundesländern geben.
Auch der ver.di-Bundesvorsitzende Frank Werneke begrüßte das Urteil, forderte aber, "die bestehenden Regelungen aufzuheben und durch ein menschenwürdiges und verfassungskonformes System zu ersetzen". Ebenso fordern der Deutsche Gewerkschaftsbund, die Diakonie Deutschland, die Arbeiterwohlfahrt und der Paritätische Wohlfahrtsverband gemeinsam mit weiteren Partnern, Verbänden und Organisationen, die komplette Abschaffung der Sanktionen. Sie entstammten einer längst überwundenen Rohrstockpädagogik des vergangenen Jahrhunderts, sagte der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, Ulrich Schneider.
„Sanktionsregime deutlich entschärft“
Interview – Jens Petermann, Vorsitzender Richter am Sozialgericht Gotha, über das Urteil zu den Hart-IV-Sanktionen
Seiner Beharrlichkeit und seinem Engagement ist das richtungweisende Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Sanktionen gegen Hartz-IV-Berechtigte im Wesentlichen zu verdanken: Jens Petermann*, Sozialrichter in Thüringen. Unter seinem Vorsitz fasste 2015 die 15. Kammer des Sozialgerichts Gotha den Beschluss, dem höchsten deutschen Gericht die Frage vorzulegen, ob die gesetzlich vorgeschriebenen Sanktionen gegen Hartz-IV-Berechtigte wegen sogenannter Pflichtverletzungen mit dem Grundgesetz vereinbar sind. ver.di publik sprach mit Petermann nach der Urteilsverkündung.
ver.di publik: Empfinden Sie einen herzlichen Glückwunsch zum Erfolg in Karlsruhe als angemessen?
JENS PETERMANN: Vielen Dank, es ist zwar nur ein Teilerfolg, aber doch ein recht großer. Glückwünsche wären aber auch und vor allem an viele Einrichtungen und Verbände zu richten, die als sogenannte sachverständige Dritte dem Gericht umfangreiche Stellungnahmen geliefert haben. Ich denke da an die Sozialverbände, an die Wohlfahrtsverbände oder auch an den DGB und an den Erwerbslosenverein Tacheles. Die haben teilweise sehr aussagekräftige Papiere zu den Folgen der Sanktionspraxis erstellt und dem Gericht damit überzeugende Fakten und gute Argumente vorgetragen.
ver.di publik: Fühlen Sie sich als Richter der ersten Instanz von ihren Kolleginnen und Kollegen in den roten Roben verstanden?
PETERMANN: Ja, das Bundesverfassungsgericht hat die Fragestellungen unserer Kammer in Gotha umfassend aufgegriffen und Antworten gegeben. Die sind nicht alle so ausgefallen, wie wir es uns gewünscht hätten, weil wir der Meinung sind, dass der Staat überhaupt nicht in das von Verfassungs wegen sicherzustellende Existenzminimum eingreifen darf. Gleichwohl: Der Erste Senat hat das Sanktionsregime deutlich entschärft und auch den Sanktionen ihren bisherigen Charakter als Strafmaßnahme weitgehend genommen. Wir haben damit für den sozialen Frieden einen gewissen Fortschritt erreicht.
ver.di publik: Bleiben dem Gesetzgeber, den Jobcentern und Sozialgerichten Interpretationsspielräume?
PETERMANN: Keine großen. Die Entscheidung des Verfassungsgerichts ist einstimmig getroffen worden. Es gibt kein Minderheitenvotum mit abweichenden Rechtsauffassungen. Leistungskürzungen um 60 oder gar um 100 Prozent sind ab sofort sozusagen verboten. Zu den Sanktionen bis zu 30 Prozent ist jetzt der Gesetzgeber gefragt, weil das Gericht diese Regelung ebenfalls auf Dauer gemildert sehen will. Sie sollen den Arbeitssuchenden vielmehr eine Brücke in die Beschäftigung bieten. Da hat der Bundesarbeitsminister ja nach der Urteilsverkündung schon versichert, dass die Regierung unverzüglich tätig wird. Und er will offenbar auch die geltenden, noch schärferen Sanktionen gegen junge Menschen bis 25 Jahre gleich mit auf den Prüfstand stellen. Das ist zu begrüßen.
Interview: Henrik Müller
*Jens Petermann, Jahrgang 1963, Dipl.-Jurist, wurde im Dezember 1989 als dienstjüngster Richter an das Kreisgericht seiner thüringischen Heimatstadt Arnstadt gewählt. Von 1993 bis 2006 war er Richter an den Arbeitsgerichten Gotha, Eisenach und Nordhausen. Seit 2006 ist er Richter am Sozialgericht Gotha, von 2009 bis 2013 direkt gewählter Bundestagsabgeordneter der Partei "Die Linke" und seit 2015 – ehrenamtlich – Richter am Thüringischen Verfassungsgerichtshof.