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Die beiden Brüder sind geistig beeinträchtigt und leben isoliert mit ihrer Familie in Nepalimfilm-Agentur + verleih

Zum Beispiel Jhon-Mario aus Kolumbien. Der Gehörlose arbeitet als Mechaniker und erzählt Gehörlosenwitze in Gebärdensprache. Sein Vorarbeiter sagt: Keiner in unserem Betrieb ist so kommunikativ wie Jhon-Mario. Der gebärdet: "Wir müssen unsere Rechte einklagen." Oder Rethabilie in Südafrika. Sie lebt in einem Township in Lesotho mit ihrem Mann und ihrem Kind von einem Dollar am Tag. Manchmal träumt sie, dass sie nicht behindert ist und endlich eine Arbeit findet. Wenn sie aufwacht, berührt sie ihre Füße und stellt fest, es war nur ein Traum. In einem abgelegenen indischen Dorf lebt Sunil mit Muskeldystrophie und Epilepsie, aber ohne Eltern. Der Rollstuhl ist kaputt, Sunil schiebt sich auf einem Holzbrett mühselig durch die Räume des Hauses. Sein Großvater glaubt, Sunil sei besessen vom Geist seines verstorbenen Vaters – und prügelt den Enkel bei jedem epileptischen Anfall fast tot.

Diese drei Menschen mit Behinderung und noch viele andere mehr hat Dennis Klein auf zwei langen Reisen um die Welt kennengelernt. Nun gehören sie zu den Helden seines Films. Menschsein erzählt davon, wie Menschen mit Behinderung leben – in Deutschland oder in Nepal. Ob in Neuseeland, Kambodscha oder Vietnam: Das Leben mit einer körperlichen oder geistigen Einschränkung sieht oft dramatisch unterschiedlich aus. Eines aber ist allen gemeinsam: Einfach ist es nie. Menschsein erzählt von diesen so verschiedenen Leben und den verschiedenen Problemen, erzählt von kaum erträglichem Leid, aber auch von glücklichen Momenten. Er erzählt nicht immer ohne Pathos, aber mit viel Einfühlungsvermögen, mit genau der richtigen Dosis Rührseligkeit und mit einer klaren politischen Haltung.

"In was für einer Welt lebe ich eigentlich?", fragt Klein einmal aus dem Off. Das war die Ausgangsfrage, mit er sich auf die Reise machte. Außerdem dabei: Eine einfache, eigentlich ungeeignete Digitalkamera, viel Enthusiasmus und eine persönliche Beziehung zum Thema. Denn Klein ist kein Filmemacher. Sondern Realschullehrer in Reutlingen an der Eduard-Spranger-Schule, einer Gemeinschaftsschule, an der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen.

Als Jugendlicher hatte Klein, erzählt der 38-Jährige in einem Telefongespräch, noch eine ihm heute unerklärliche Angst vor Behinderten. Das änderte sich im Zivildienst, seitdem gehören zu seinem Leben ganz selbstverständlich auch Menschen mit Behinderung. Zwei Mal im Jahr fährt der Freundeskreis, gut 90 Menschen, zusammen auf eine Freizeit. Im Film sieht man Bilder von diesen Freizeiten: Menschen mit und ohne Behinderung spielen Fußball, im Tor ein Rollstuhlfahrer. Abends wird getanzt im Licht der Discokugel.

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Indien: Kaushaelya und Asha bei der Physiotherapie. Das kleine Mädchen lebte 16 Jahre auf einem Dachboden

Eigentlich nur für YouTube

Doch die Idylle trügt. Denn Klein wurde bereits in Deutschland deutlich, dass seine Freunde mit Behinderung nicht dieselben Möglichkeiten, ja nicht einmal dieselben Rechte wie Menschen ohne Behinderung haben. Das fängt bei einer Stufe an, die einen Rollstuhlfahrer aufhält, und geht bis zu den Barrieren, die Menschen mit Behinderung den Zugang zum Arbeitsmarkt nahezu unmöglich machen in einem Gesellschaftssystem, das den Wert des Menschen darüber bemisst, was er zu leisten imstande ist. "Die Menschenrechte gelten eben doch nicht für uns alle. Warum ist die Welt so ungerecht?", fragt Klein. "Mit dieser Empörung bin ich auf Reisen gegangen."

Insgesamt 405 Tage ist er für den Film unterwegs. Er reist durch 23 Länder auf sechs Kontinenten, in denen mindestens 19 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Auf seiner Reise findet er ein Mädchen, das 16 Jahre lang einen Dachboden nicht verlassen durfte und nicht einmal seinen eigenen Namen kannte. Er findet Kinder, die an ihr Bett gefesselt dahinvegetieren. Andere sind von ihren Eltern nach dem Unfall, durch den sie schwerstbehindert wurden, im Krankenhaus zurückgelassen worden. Aber er stößt auch auf selbstbewusste Menschen, die um ihre Rechte kämpfen, die sich ein Leben aufgebaut haben wider alle Umstände.

Ursprünglich hatte Klein geplant, aus dem Material nur einen kurzen YouTube-Film zusammenzuschneiden. Dass er eher naiv an seine Unternehmung herangegangen war, wurde ihm spätestens klar, als er in einem vietnamesischen Zug zufällig den urlaubenden Frederick Lau (4 Blocks) kennenlernte. Der Schauspieler, so erzählt es Klein, erklärte seinen Plan unverblümt für bescheuert. Er könne dieses großartige Thema nicht dermaßen amateurhaft angehen, er solle sich professionelle Hilfe suchen. Tatsächlich hatte Klein zwar schon als 14-Jähriger mit Film experimentiert, seinen ersten Camcorder vom Konfirmationsgeld gekauft und organisiert heute an seiner Schule Filmprojekte, die mit Preisen ausgezeichnet wurden. Aber wie man einen richtigen Dokumentarfilm produziert, wie man ihn finanziert, dreht, schneidet und schließlich ins Kino bringt, davon hatte Klein damals noch keine Ahnung. Über eine Webseite, die ihm Lau empfiehlt, kommt er in Kontakt mit Oliver Stritzke, der schließlich die Regie und den Schnitt übernehmen wird. Trotzdem wird es noch Jahre dauern, wird Klein sein ganzes Gespartes in die Produktion stecken und eine Depression überstehen müssen, bis der Film endlich fertig wird.

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Dennis Klein bei der Arbeit

Seid nicht einfach nur betroffen

Aber ein professioneller Dokumentarfilmer ist Klein trotz alledem nicht geworden. Er will, er kann gar nicht objektiv sein. "Feldforschung aus meiner Perspektive ohne Anspruch auf Wahrheit" nennt er selbst seine Methode. Er dokumentiert nicht nur, er greift sogar ein ins Geschehen, er kann nicht anders, er will helfen – und dokumentiert das im Film, hinterfragt und analysiert seine eigene Haltung. "Ich bin selbst gescheitert an meiner präkolonialen Perspektive", sagt er im Rückblick. "Ich habe nicht zugehört und dachte, ich wüsste besser als die Menschen dort, wie sie ihre Probleme lösen könnten."

Indem Menschsein diese teilnehmende Beobachtung thematisiert, erhält der Film eine zweite, wichtige Ebene. Er begnügt sich nicht mit der Darstellung der Lebensumstände seiner Protagonisten, der Menschen mit Behinderung aus aller Welt. Der Film sagt nicht nur: Seht her, diese Menschen haben ein besseres Leben verdient! Indem er sich und seine Motive hinterfragt, problematisiert Klein nicht nur die eigene Perspektive, sondern auch den bevormundenden Blick, mit dem wohl die allermeisten Zuschauer ohne Behinderung den Film sehen werden.

Menschsein sagt eben auch: Guckt Euch das an, wie Menschen mit Behinderung leben – und seid nicht einfach nur betroffen!

Ein Mann mit Mission

Denn Klein, auch das unterscheidet ihn von einem gewöhnlichen Dokumentarfilmer, hat eine Mission. Er hat keinen Film gedreht, um einen Film zu drehen. Sein Film soll etwas verändern. "Die Zuschauerin und der Zuschauer sollen ein Gefühl dafür bekommen, dass es keinen Grund gibt, Angst voreinander zu haben", sagt Klein. "Dass wir wieder anfangen, uns gegenseitig zu sehen." Das ist das Mindestziel. "Im besten Falle", sagt der Pädagoge, "soll der Film eine stärkere und gesellschaftlich breite Auseinandersetzung mit dem Thema Inklusion anstoßen. Denn Inklusion ist ein Menschenrecht."

Das ist der Punkt. Menschsein ist ein Film. Ein erhellender, ein einmaliger, ein wichtiger, vor allem ein unglaublich berührender Film. Menschsein ist aber auch und in erster Linie: ein Plädoyer für die Inklusion aller, wirklich aller Menschen.

Dokumentarfilm, Deutschland 2018, von Dennis Klein und Oliver Stritzke, 97 Minuten, am 3. Dezember bundesweit in vielen Kinos. Alle Kinos und Uhrzeiten unter:

www.menschsein-film.de