Wenn es um das Thema Entlastung geht, fühlen sich branchenübergreifend alle Beschäftigten angesprochen. Wenn es bei der Entlastung um Klinikpersonal geht, in diesem Fall auf einer Intermediate Care Station, geht es um Menschenleben. Bei akuten Brustschmerzen und anderen unklaren Beschwerden im Brustbereich, die möglicherweise auf einen Infarkt hindeuten können, sind die Mitarbeiter der Intermediate Care Station (IMC) gefragt. Darüber hinaus werden auf der IMC alle akuten internistischen Erkrankungsbilder behandelt und überwacht, bei denen eine unmittelbare Lebensgefährdung droht (z. B. Magenblutung, Lungenentzündung, Infektionen, kritische Tumorerkrankungen).

Wer im IMC behandelt wird, benötigt ausgeschlafenes, perfekt ausgebildetes und hoch motiviertes Personal. Die Situation auf den Intensivstationen ist hingegen besorgniserregend. Über 100 Gefährdungsanzeigen in den letzten zwei Jahren sprechen eine deutliche Sprache.

Bei der Einstellung wird Bewerber*innen ein Pflegeschlüssel von 1:4 zugesichert, die Realität liegt bei teilweise 1:6. Das Einspringen aus der Freizeit heraus ist normal, eine Ablösung in den Pausen oftmals nicht eingeplant. Diese Situation fand Philipp Motzke, ver.di-Gewerkschaftssekretär in Jena, bei seinen ersten Kontakten zum Universitätsklinikum Jena (UKJ) vor. Der Handlungsbedarf war offensichtlich. Unzählige Gespräche mit den Beschäftigten, Gründung eines ver.di-Vertrauensleutekörpers, Konzept-entwicklungen und kleinere Aktionen bestimmten fortan den Arbeitsalltag des Gewerkschafters.

Anfang Mai 2018 haben die Beschäftigten der IMC 1 am Universitätsklinikum dem Vorstand schließlich ein Ultimatum gestellt. Sie forderten acht zusätzliche Vollzeitstellen, zogen die Bereitschaft zum Einspringen aus der Freizeit zurück, nahmen konsequent ihre freien Tage und gönnten sich die ihnen zustehenden Pausenzeiten. Wenig später schlossen sich die Beschäftigten der IMC 2 an, ebenfalls eine Interdisziplinäre Station mit vier Fachabteilungen und 22 Betten. Teilweise muss eine Pflegefachkraft hier sechs bis sieben Patienten versorgen.

Ende Dezember 2018 waren die Forderungen noch immer nicht umgesetzt, die Frist für das Ultimatum lief ab. Mit einer Mahnwache wurde am 28. Dezember 2018 ein weiteres öffentliches Signal vor dem Klinikum gesetzt. Die Reaktion des Vorstandes war vorhersehbar, die Drohgebärden gegenüber den Kolleg*innen wurden forciert.

Das Aktionsbündnis verbreitet im April 2019 den "Jenaer Klinikums-Aufschrei": "Mehr von uns ist besser für alle." Dazu veröffentlichten sie auch alarmierende Berichte von Beschäftigten. "Wir hetzen durch die Gänge, gehen ausgebrannt nach Hause und retten in der Zwischenzeit Leben", so die erschütternde Einschätzung einer Stationsschwester.

Der Belastungscheck

Um den Druck auf die politisch Verantwortlichen zu erhöhen, gründete sich im Juni 2019 das "Jenaer Bündnis für mehr Pflegekräfte", dem sich weitere Gewerkschaften und Organisationen angeschlossen haben. Mit über 700 Beschäftigten wurde ein "Belastungs-check" durchgeführt, bei dem über 90 Prozent der Befragten angaben, dass sie sich gehetzt fühlten und Auswirkungen auf die Qualität der Arbeit befürchteten. Fast 80 Prozent von ihnen verzichte auf ihre gesetzlichen Pausen.

Die nächste Eskalationsstufe wurde eingeläutet, der Vorstand bekam die Aufforderung, in Tarifverhandlungen einzutreten. Das Ziel: Entlastung der Beschäftigten. Eine Petition mit über 1.300 Unterschriften wurde im Juli der Regierungsfraktion überreicht.

Eine Petition ist eines der vielfältigen Mittel, die ein Team von ver.di-Organizern im Unternehmen einführte. Luigi Wolf, von Beginn an am Klinikum eingesetzt, sagt: "Ein Beschäftigten-Potenzial wie im Klinikum muss mit strukturiertem Herangehen überzeugt werden." Sehr schnell sei klar geworden, dass Gehaltsfragen nicht alles seien. Bei den Beschäftigten stehe das Berufsethos im Vordergrund – sie wollen alles für das Wohl des Patienten tun. "Über alle Stationen am UKJ wurden daher Teams installiert, die benennen Delegierte, vergleichbar mit Vertrauensleuten, die in engem Kontakt mit dem Organizing-Team stehen. Allein bei einer Tarifrunde saßen 129 Delegierte im Hintergrund, die ständig über den Verhandlungsverlauf informiert wurden", sagt Wolf. Das sei fast ein Novum, nur im Saarland würde so gearbeitet.

Noch vor Redaktionsschluss konnte die Tarifkommission nun einen Abschluss verkünden. Die Schaffung von 144 Stellen in der Pflege, geregelte Ausgleiche für Mehrarbeit und die Verbesserung der Relation von Pflegekräften zu Pflegebedürftigen sind die Eckdaten des Tarifvertrages "Entlastung". Der setze bundesweit neue Maßstäbe für die Entlastungs- bewegung an Krankenhäusern, so Verhandlungsführer Bernd Becker.