G06_07_AUFMACHER_laufen_p1166m1151054.jpg

Isabel Bogdan: Laufen

G06_07_Kultur_AUFMACHER_lesen_laufen01.jpg

Eine Frau joggt um die Alster, völlig außer Atem. Viele Jahre ist sie nicht mehr gelaufen, aber jetzt muss es sein. Denn die Ich-Erzählerin dieses außergewöhnlichen Romans will ihre Trauer weglaufen, ihre Wut. Sie möchte endlich wieder leben, nicht nur grübeln. Der Grund ihres Ausnahmezustands: Ihr depressiver Mann hat sich das Leben genommen. Zuvor schrieb er der 43-Jährigen zwei kurze Zeilen auf einen Zettel: Er sei glücklich mit seiner Entscheidung, und sie solle es auch sein. "Das ist so krank und dumm und egoistisch, wie soll ich denn nicht traurig sein und wütend und verletzt?" fragt sie sich nun, während sie rennt und schwitzt.

In schneller, klarer Sprache und in radikaler, assoziativer Form porträtiert Isabel Bogdan eine Frau, die zunächst verzweifelt erscheint. Ihre Laufversuche gestalten sich mühsam, und ihre Gedanken sind von Ohnmacht geprägt: "Ich will nicht an die Zukunft denken und wie alles werden soll, ich bin doch schon froh, wenn ich durch die Gegenwart komme, ohne mitten in der Probe oder im Supermarkt heulen zu müssen." Doch je mehr die Hauptfigur, eine Orchestermusikerin, läuft, desto mehr gewinnt sie ihren Humor zurück, ihre Zuversicht. Wird es tatsächlich irgendwann ein erfülltes Leben ohne ihren Mann geben, ein neues Zuhause? Oder bleibt es bei dem Zustand, den die Frau als "mickriges, kleines Scheißleben" bezeichnet?

Wochen und Monate vergehen. Noch immer joggt die Frau, und sie berichtet in ihrem inneren Monolog von ersten Momenten der Hoffnung. Sogar von einem Anflug von Lebensfreude. Jedoch: Darf sie das überhaupt, mit einem anderen Jogger flirten? Na klar. Denn, so erinnert sie sich: Die Krankheit ihres Mannes und die lähmenden früheren Beziehungsgespräche sind nicht ihre Schuld. Zudem spürt sie, dass sie sich bei ihm schon lange nicht mehr aufgehoben gefühlt hat. Die beste Freundin der Laufenden und ihre Therapeutin bestärken sie darin, einen Neuanfang zu wagen.

Isabel Bogdan hat ihren Roman wie eine Laufstrecke konstruiert. Mit langen temporeichen Sätzen, die von zahlreichen Kommata in kleine Einheiten, also letztlich Schritte, eingeteilt werden. Schritte zurück ins Leben. Das intensive Porträt ist kein "Betroffenheitsquark", wie die Hauptfigur an einer Stelle über Ratgeber nach Schicksalsschlägen urteilt, sondern ein starker Roman über Verlust und Neubeginn.

Günter Keil

Isabel Bogdan: Laufen, Verlag Kiepenheuer & Witsch, 208 S., 20 €

G06_07_Kultur_lesen_cartagena01.jpg

Simone Buchholz: Hotel Cartagena

Diesen Kriminalroman sollten Sie lesen, wenn Sie gerade eine entspannte Phase in Ihrem Alltag erleben – anderenfalls werden Sie die unglaubliche Anspannung, die beklemmend verdichtete Atmosphäre, die dieser atemlose Text erzeugt, kaum aushalten. Simone Buchholz, mehrfache Trägerin des Deutschen Krimipreises, versteht sich auf die hohe Kunst, ihre Leserschaft in einen Bann zu ziehen, der von der ersten bis zur letzten Zeile fasziniert. In der Bar eines Hotels in St. Pauli werden die Gäste von schwerbewaffneten Männern in Geiselhaft genommen, darunter auch eine Runde Kriminalbeamter, die einen der Ihren in den Ruhestand verabschieden. Dazu gehört Staatsanwältin Chastity Riley, Buchholz' schräge Serienheldin und schnoddrige Ich-Erzählerin, die gleich mit ein paar ihrer Kollegen erotisch verstrickt ist. Riley entwickelt im Laufe der enervierenden Gefangenschaft eine veritable Blutvergiftung, die die Autorin zu nahezu poetisch beschriebenen Halluzinationen im Fieberwahn inspiriert und die Leser*innen angemessen verwirrt – was ist Realität, was Chastitys Alptraum? In Rückblenden erfährt man vom Hintergrund der monströsen Tat, die sich als ein perfide ausgeklügelter Rachefeldzug aus dem kolumbianischen Drogenmilieu entpuppt – und genretypisch in einem kraftvollen Showdown endet. Freilich, und auch das ist großartige Literatur, mit einem knalligen Überraschungsmoment. Ulla Lessmann

Suhrkamp Nova, 228 S., 15,95 €

G06_07_Buch_Niemandsland.jpg

Matthias Friedrich Muecke: Niemandsland

Ostberlin Mitte der 70er Jahre. Matthias und Frank sind beste Freunde und wachsen unweit der Mauer in Pankow auf. Hinter den bröckelnden Fassaden ihrer Gegend, in Hinterhöfen, auf Schrottplätzen und in Freibädern erleben die beiden die größten und irrwitzigsten Abenteuer, die man in diesem Alter erleben kann. Die beiden sind Blutsbrüder, die alles miteinander teilen und trotzig ihre ganz eigene Freiheit hinter der Mauer behaupten. Episodisch erzählt der bildende Künstler Matthias Friedrich Muecke Geschichten, die eng mit seiner eigenen Kindheit und Jugend verknüpft sind. Episoden, die so alltäglich, dramatisch, lustig und traurig sind wie das Leben, wenn man in den 70er Jahren in Pankow aufwächst. Oder wo auch immer, denn die Geschichte spielt zwar im Osten, doch Kindheit und Pubertät sind auch hier so universell wie überall. Niemandsland ist jedoch anders als andere Geschichten über das Heranwachsen, denn der Autor ist nicht nur ein sehr guter Erzähler, er hat dieses Buch auch mit ungemein detailreichen und sehr atmosphärischen Illustrationen versehen. So kann man die Erlebnisse der beiden Helden in allen Grautönen buchstäblich sehen, riechen und schmecken. Ein großartiges, wunderbar ausgestattetes Buch und ein großes Abenteuer.

Marion Brasch

Verlag Kunstanstifter, 208 Seiten, 24 €