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Alles noch essbar trotz Beulen und SchrundenFoto: Dominik Asbach/laif

In ihrem Fahrradkorb liegen zwei große Papiertüten, jeweils gefüllt mit frischen Brötchen und Croissants. Rita Schwarz (Name geändert) war eigentlich mit ihren Kolleginnen zum Frühstück mit anschließender Planungsrunde verabredet. Doch kurzfristig platzte der Termin. Das frische Backwerk wäre ein Fall für die Tonne – wenn Rita Schwarz nicht Mitglied bei Foodsharing.de wäre. Über dieses Onlineportal zur Lebensmittelrettung finden sich immer Abnehmer*innen für überzählige Backwaren, Obst, Gemüse und anderes mehr, weiß die Berliner Sozialarbeiterin.

Nach der Absage der Frühstücksrunde hat sie ihre Offerte ins Netz gestellt und schnell eine Rückmeldung bekommen: Hanna Solms (Name geändert) nimmt gerne Brötchen und Croissants für ihre WG. Rita Schwarz bringt die Tüten zum nächsten "Fair-Teiler", in diesem Fall das nahegelegene Büro einer Klimainitiative. Hanna Solms kann die Spende dort abholen, denn auch sie ist bei Food- sharing.de registriert und kann Essen bringen oder nehmen.

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Ein paar Falten machen diese Paprika keinesfalls ungenießbarFoto: Peter Jülich

Essenskörbe und Umschlagplätze

"Wir bieten Essenskörbe und Umschlagplätze an", heißt es auf der Webseite von Foodsharing. 2012 in Berlin entstanden, ist die Initiative mittlerweile in der ganzen Republik sowie in weiteren europäischen Ländern aktiv. Wichtig ist den mehr als 200.000 Foodsharer*innen dabei, dass das Angebot kostenfrei ist und ehrenamtlich koordiniert wird. Wer bei Food-sharing mitmachen will, muss sich auf der Onlineplattform als "Foodsharer" registrieren und kann anschließend zu viel gekaufte Lebensmittel als "Essenskorb" anbieten oder selbst einen abholen. Als unkomplizierte Umschlagplätze bewähren sich dabei die Fair-Teiler: etwa ein Regal und ein Kühlschrank im Büro einer Umweltorganisation. Wer im größeren Stil Essen vor dem Wegwerfen retten möchte, kann bei Foodsharing auch zum Foodsaver, Lebensmittelretter, werden: Diese Aktiven holen überschüssige Lebensmittel aus Betrieben ab, die mit der Initiative kooperieren. Dazu zählen zum Beispiel die Einzelhandelsfilialisten Biocompany, Kaufland, Erdkorn und einige mehr.

Die Tafeln zuerst

Angesichts der großen Nachfrage nach Lebensmittelspenden bei den Tafeln, die armen Menschen landauf, landab kostenlos Essen anbieten, stellt sich die Frage, ob Foodsharing und vergleichbare Initiativen den ärmsten Bürger*innen mit ihren Sammelaktionen nicht dringend benötigte Nahrung wegnehmen. Genau das tun sie aber nicht. "Wir lassen den Tafeln immer den Vortritt", heißt es bei den Foodsharer*innen. Genommen und verteilt werde das, was die Tafeln übriglassen.

Und das ist noch immer eine riesige Menge: In Deutschland landen jährlich mehr als 12 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll beziehungsweise kommen erst gar nicht in den Handel (s. Kasten). Die Privathaushalte tragen mit etwa 7 Millionen Tonnen zu viel gekaufter Lebensmittel dazu bei. Reste fallen zudem im Groß- wie im Einzelhandel, in Restaurants, Kantinen, Cafés und Hotels an.

Nicht nur Foodsharing hat es sich zur Aufgabe gemacht, gute und genießbare Lebensmittel vor dem Ende in der Mülltonne zu bewahren. Seit 2015 (international) bzw. 2016 (in Deutschland) organisiert "Too Good To Go" per App die Rettung bereits zubereiteter Mahlzeiten. "Wir kümmern uns um kleinere Essensmengen, vermitteln zwischen Gastronomie und Selbstabholern, die überproduzierte Speisen zum günstigen Preis erhalten", sagt Victoria Prillmann, Sprecherin von Too Good To Go. Das Unternehmen verdient mit der App sein Geld. Seit der Gründung sind dank dieser Vermittlung bereits mehr als 30 Millionen Mahlzeiten gerettet, sprich: gegessen worden. Die Umwelt konnte auf diese Weise vor nahezu 77.000 Tonnen Kohlendioxidemissionen bewahrt werden.

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Zwei Frauen verteilen gerettete Nahrungsmittel auf mehrere BeutelFoto: Peter Jülich

Ein Bündnis zur Lebensmittelrettung

Foodsharing und Too Good To Go haben zusammen mit der Supermarktkette "Sirplus", die gerettete Lebensmittel günstig verkauft, und dem Verein "Restlos glücklich", der Bildungsprojekte zum Thema anbietet, 2019 das "Bündnis Lebensmittelrettung" gegründet. Victoria Prillmann von Too Good To Go sagt: "Wir stimmen uns untereinander in unseren Aufgabenbereichen ab. Vor allem geht es uns aber um den gemeinsamen Dialog mit der Politik, denn wir werden nicht allein die gigantische Lebensmittelverschwendung spürbar mindern können." Das Bündnis hat bereits Gespräche mit Vertreter*innen des Bundeslandwirtschaftsministeriums geführt und sich mit konkreten Forderungen an Abgeordnete der verschiedenen Parteien gewandt. "Wir wollen ein Anti-Wegwerf-Gesetz, ähnlich wie in Frankreich, Italien und Tschechien", so die Sprecherin von Too Good To Go.

Die Bundesregierung hat sich 2015 zu den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen bekannt, die etwa die Halbierung der Lebensmittelabfälle in Haushalten, Handel und Gastronomie bis 2030 vorsehen. Doch bisher sind konkrete Ergebnisse kaum sichtbar geworden. So fordert das Bündnis Lebensmittelrettung auch, die bisherigen Regelungen zum Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) für Lebensmittel aufzuheben. "Lebensmittel sind in der Regel auch noch nach Ablauf ihres MHDs genießbar, werden jedoch häufig aufgrund der Überschreitung des Datums weggeschmissen", kritisiert das Bündnis auf seiner Webseite. Diese unnötige Verschwendung resultiere vor allem daraus, dass die Produzent*innen selbst das MHD festlegen können. "Wir fordern daher mehr staatliche Investitionen in die Erforschung eines MHDs, welches sich an der Verzehrfähigkeit von Lebensmitteln orientiert."

Und schließlich möchte das Bündnis das Thema Lebensmittelverschwendung verbindlich in die Schulen bringen. Es sei "elementare Aufgabe der Politik, die Wertschätzung von Nahrung in den Lehrplänen bundesweit und langjährig zu verankern".

Gigantische Verschwendung

Rund 12,7 Millionen Tonnen Lebensmittel landen jährlich im Müll. So das Ergebnis einer Studie, die das Thünen-Institut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft im September 2019 veröffentlicht hat. Basisjahr der Berechnungen ist 2015. Anders als in anderen Berechnungen wurden für diese Studie nicht über die Kanalisation entsorgte Lebensmittel berücksichtigt. Entscheidend sei, so Thomas Schmidt vom Thünen-Institut, dass die gigantische Verschwendung angegangen werden müsse. Vor allem die Privathaushalte müssten handeln, sie allein sind zu 55 Prozent dafür verantwortlich, dass Essen im Müll landet. Aus der Landwirtschaft gelangen 11 Prozent der produzierten Lebensmittel, sogenannte Nachernteverluste, nicht in den Handel. Die Lebensmittelverarbeitung trägt 17, die Gastronomie 13 und der Handel 4 Prozent zu den Verlusten bei. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft versucht, über die vor einem Jahr verabschiedete "Nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung" gemeinsam mit Akteuren aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Nichtregierungsorganisationen das Problem anzugehen. Informationen, Lehr- und Werbematerialien zum Thema finden sich auf dem vom Ministerium initiierten Internetportal "Zu gut für die Tonne!". gg

zugutfuerdietonne.de

foodsharing.de

toogoodtogo.de

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