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Ohne genügend Abstand – in Bangladesch müssen die Textilarbeiterinnen trotz Shutdowns wieder arbeitenFotoS: Zabed Hasnain Chowdhury/Sipa USA/ddp

Nichts ist in Bangladeschs Textilfabriken mehr, wie es einmal war. Wachschutzpersonal misst bei Näherinnen in bunten Saris am Fabriktor Fieber. Beine und Füße der Frauen, die in Flipflops stecken, werden mit einer flüssigen Lauge abgespritzt, die Hände mit einem Desinfektionsspray eingesprüht. Das zeigen Aufnahmen in einem Bericht der ARD vom 1. Mai. Massen von Frauen mit kaum 20 Zentimeter Abstand voneinander strömen in dem südostasiatischen Land wieder zur Arbeit.

Weltweit haben sich Menschen in ihre Häuser zurückgezogen, in den allermeisten Ländern sind sie wie auch in Bangladesch dazu angehalten worden. Regierungen haben ihre Grenzen dicht gemacht, ein Großteil der Wirtschaft, das Schmiermittel globalen Handelns, ist zum Erliegen gekommen. Der Coronavirus hat Lieferketten gesprengt, die bis zu seinem Auftreten als nahezu unzerreißbar galten. Mit verheerenden Auswirkungen. Das zeigt allein der Blick nach Bangladesch.

Die neue Gefahr ist unsichtbar

Fünf Millionen Menschen, in der Mehrzahl Frauen, erwirtschaften dort nach Angaben des Gewerkschaftszentrums für Textilarbeiter (Garment Workers' Trade Union Centre) ihre oftmals prekäre Existenz in dieser Branche. Die Corona-Krise könnte für sie am Ende weitaus schlimmere Folgen haben als der Einsturz des achtgeschossigen Rana-Plaza-Gebäudes nahe der Hauptstadt Dhaka vor sieben Jahren. Damals kamen 1.135 Menschen ums Leben. Die neue Gefahr ist unsichtbar, kündigt sich nicht in Rissen in den Fabrikwänden an, auf die viele Näherinnen im Rana Plaza nur wenige Tage vor dem Einsturz hingewiesen hatten.

Jetzt fürchten sie erneut um ihr Leben. "Alles hat hier noch geschlossen. Warum müssen wir arbeiten? Ohne Schutz, mit Hunderten anderen Arbeitern in einem Raum? Wer trägt die Verantwortung für uns? Sind wir etwa keine Menschen, oder hat unser Leben einfach keinen Wert?", fragt eine von ihnen in dem ARD-Bericht. Laut offiziellen Zahlen haben sich bisher rund 9.000 Menschen in Bangladesch mit dem Coronavirus infiziert. Doch die Zahl der Infizierten könnte jetzt unter den unsicheren Arbeitsbedingungen in die Höhe schnellen. Davor warnt auch das Gewerkschaftszentrum, seit die ersten Textilfabriken bereits Mitte April ihre Werkstore wieder geöffnet haben.

Den Näherinnen bleibt allerdings kaum etwas anderes übrig, als wieder arbeiten zu gehen und womöglich ihr Leben zu riskieren. Als in Europa und den USA die Schotten dicht gemacht worden sind, gingen den Textilfabriken in Bangladesch von einem auf den anderen Tag nahezu alle Aufträge verloren. Textilhändler wie Primark und C&A stornierten sämtliche Aufträge. Zwei Millionen Textilarbeiter*innen wurden von heute auf morgen entlassen. Das Gewerkschaftszentrum versorgt bis heute die in Not geratenen Familien mit Nahrungsmitteln. Auch um notwendige medizinische Versorgung bemüht man sich.

Mit einem Lieferkettengesetz, wie es ver.di seit letztem Jahr mit 80 anderen Organisationen für die globale Wirtschaft fordert, könnte die Situation der Näherinnen heute eine bessere sein. Tatsächlich aber gaben 95 Prozent der Textillieferanten in Bangladesch, deren Verträge abrupt und ohne Schadensersatz beendet wurden, laut einer Untersuchung des Europäischen Zentrums für Verfassung und Menschenrechte (ECCHR) an, dass sich die Marken, für die sie produzierten, weigerten, auch nur irgendwelche Hilfen zu zahlen.

Freiwillig tut kein Unternehmen etwas

"Sollte bis 2020 nicht die Hälfte aller Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern ein Verfahren menschenrechtlicher Sorgfalt etabliert haben, dann ist eine gesetzliche Regelung notwendig." Als Bundesentwicklungsminister Gerd Müller, CSU, Ende Dezember 2019 auf einer Pressekonferenz zusammen mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD, aus dem Koalitionsvertrag der Regierung zitierte, war es ihm und Heil ernst damit, nicht länger auf freiwillige Verpflichtungen zu setzen. Von 7.000 deutschen Unternehmen der entsprechenden Größe hatten die beiden Minister 3.000 angeschrieben und um Auskunft gebeten. Nur 464 davon hatten überhaupt geantwortet, und wiederum nur ein Fünftel von diesen behauptete von sich, Verantwortung für ihre Lieferketten zu übernehmen. Wie die Realität in den Lieferketten tatsächlich aussieht, zeigt sich jetzt in der Corona-Krise.

"150 Millionen Kinder arbeiten, davon 75 Millionen Kinder unter ausbeuterischen Bedingungen auf Kaffeeplantagen, in Goldminen, in Steinbrüchen oder in der Textilproduktion. Ich habe das alles gesehen. Ich rede also nicht vom Pferd. Für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern gibt es weder Arbeitssicherheit noch existenzsichernde Löhne." Auch das sagte Müller Ende Dezem-ber. Er hat den Entwurf für ein Liefer- kettengesetz längst in der Schublade. Bisher konnte aber die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, die das Gesetz ablehnt, das Unternehmen in die Haftung für Verletzungen in der Lieferkette nehmen könnte, seinen Einfluss auf die Bundesregierung geltend machen und das Gesetzesvorhaben ausbremsen.

Doch der Verband hat seine Rechnung ohne die EU-Kommission gemacht. Die kam im Februar zu dem Schluss, dass es auf europäischer Ebene gesetzliche Vorgaben brauche, damit Unternehmen sicherstellen, dass entlang ihrer Lieferketten Menschen und Umwelt nicht zu Schaden kommen. Anfang Mai hat der EU-Justizkommissar für 2021 ein solches Gesetz angekündigt. Und auch 101 Investment-Firmen haben am 22. April angesichts der dramatischen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Menschen in den Lieferketten alle Regierungen weltweit aufgefordert, durch wirksame Gesetze einen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen zu gewähren.