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Christian Jungeblodt

Thorsten Nagelschmidt: Arbeit

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Berlin bei Nacht. Fiebrige Metropole, Stadt der Hedonisten und Partypeople. Der Schriftsteller und Musiker Thorsten Nagelschmidt kennt das, aber es interessiert ihn nicht. Er erzählt lieber von einem Berlin, das bevölkert wird von Leuten, die die Arbeit der Nacht verrichten: Hostelbesitzer, Drogendealer, Polizistinnen, Rettungssanitäter, Flaschensammlerinnen, Taxifahrer, Spätibesitzerin und so weiter. Wir begleiten diese Leute 12 Stunden lang durch eine Nacht im März. Eine Milieustudie, ein Abenteuerroman. So etwas könnte schiefgehen, ins Klischee driften, aber nicht bei Thorsten Nagelschmidt. Er begibt sich mit seinen Figuren, diesen Unsichtbaren, Gescheiterten, Sehnsuchtsvollen und Hoffnungslosen durch ein Berlin, das so wahrhaftig ist wie das eines Alfred Döblin oder eines Walter Ruttmann. Und statt seine Nachtarbeiter wie ein Ethnologe zu betrachten, begegnet er ihnen auf Augenhöhe, mit großer Kenntnis ihrer jeweiligen Milieus. Auf diese Weise verwebt er die episodischen Geschichten zu einem warmherzigen, harten, klugen und spannenden Gesellschaftsroman jenseits aller Großstadt- und Berlin-Klischees. Marion Brasch

S. Fischer, 336 Seiten, 22 €

Täve Schur: Was mir wichtig ist

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Er war neun Mal Sportler des Jahres, gewann 1955 und ´59 die "Friedensfahrt", das größte Amateurradrennen der Welt, wurde 1958 und ´59 Weltmeister: Der Radrennfahrer Gustav-Adolf "Täve" Schur, geboren und wohnhaft im sachsen-anhaltinischen Heyrothsberge, ist ein Idol – nicht nur für Radsportfans. Einer, der sagt, was er denkt, selbstbewusst, bodenständig, uneitel, gradlinig, "gut sortiert und aufgeräumt", wie der 1931 Geborene seinen Seelenzustand beschreibt. Weil er immer noch sehr beschäftigt ist, hat er nun die vielen Briefe, in denen er um seine Meinung gebeten wird, in einem sehr unterhaltsamen und informativen autobiografischen Buch beantwortet. Betrachtungen zu "Soll man ein Haus bauen?" (ja), "Soll man sich als Ostdeutscher bekennen?" (ja), "Soll man in die Politik gehen?" (ja). Letzteres tat Schur von 1959 bis 1990 in der DDR-Volkskammer, saß eine Legislaturperiode für die PDS im Bundestag. Schur weigert sich konsequent, sein Leben in der DDR zu verdammen. Bis heute verhindert man wegen dieser Haltung seine Aufnahme in die "Hall of Fame" des deutschen Sports, wo er sich neben ehemaligen NSDAP-Mitgliedern wie Josef Neckermann oder Sepp Herberger ohnehin nicht wohl fühlen würde. "Mich trieb keine Diktatur in den Sattel, ich fuhr freiwillig Rennen, weil ich es wollte." Wie viel Respekt, ja Verehrung dem charismatischen Sportler bis heute erwiesen wird, kann man in Briefen Prominenter und Fans nachlesen. Schur ist überzeugt, 100 Jahre alt zu werden. "Der Mensch bewegt sich nicht weniger, weil er alt ist. Er wird alt, weil er sich weniger bewegt. Also: beweg dich!". Ulla Lessmann

Verlag neues leben, 207 S., 20 €

Zoë Beck: Paradise City

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Wer fit ist und funktioniert, hat nichts zu befürchten. Wer hinterfragt und kritisiert, lebt gefährlich. Im Deutschland der Zukunft, das Zoë Beck in ihrem unheim-lichen Thriller beschreibt, wird alles von Algorithmen gesteuert. Jeder Bürger muss stets sein Smartcase mit sich führen – eine Karte, auf der die personenbezogenen Daten gespeichert sind. Kranke werden von einer Gesundheits-App kontrolliert, und die Medien verkünden nur noch Staatspropaganda. Liina ist eine der letzten unabhängigen Journalist*innen. Gemeinsam mit ihrem Team beschafft sie brisante Daten und Fakten. Und sie schwebt in Gefahr: Liina hat ein Spenderherz, das allmählich schwächer wird. Die Zeit läuft also gegen die junge Frau. Liina und ihre Kolleg*innen recherchieren trotzdem mysteriöse Todesfälle und kommen geheimen Forschungsprojekten auf die Spur. In knappen, klaren Sätzen treibt Zoë Beck ihre Hauptfigur durch den straffen Plot. Die Berliner Autorin zeichnet ein düsteres Gesellschaftsbild nach der Klimakatastrophe, und ihre packende Dystopie liest sich wie eine Warnung: Stoppt den Optimierungs- und Überwachungswahn, bevor es zu spät ist! Günter Keil

Suhrkamp, 281 S., 16 €