Vor wenigen Wochen klatschte die ganze Republik Pflegekräften und Ärzten Beifall. In der Corona-Krise verhinderten Busfahrerinnen, Müllwerker, Feuerwehrleute, Techniker und Verwaltungsangestellte einen Kollaps der Grundversorgung. Das politische Berlin pries den unermüdlichen Einsatz dieser sogenannten systemrelevanten Berufe in Sonntagsreden. Doch Applaus war gestern. Heute werden die "Corona–Helden" nicht mehr wertschätzend behandelt.

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Dierk Hirschel leitet den Bereich Wirtschaftspolitik bei ver.diFoto: Kay Herschelmann

Im Spätsommer starten die Tarifverhandlungen für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes und des ÖPNV. Bei Bund und Kommunen verhandelt ver.di über die Löhne und Gehälter von 2,3 Millionen Beschäftigten. In Corona-Zeiten ist diese Tarifrunde eine große Herausforderung. Die öffentlichen Arbeitgeber sehen erwartungsgemäß keine Spielräume für Lohnzuwächse. Einem Nackten könne man schließlich nicht in die Tasche greifen.

Auf den ersten Blick ist das wirtschaftliche Umfeld tatsächlich schwierig. Der Lockdown ließ die heimische Wirtschaft in eine Rezession stürzen. Viele Unternehmen schreiben Verluste und Millionen Beschäftigte müssen empfindliche Einkommensverluste hinnehmen. Die Bruttolöhne und -gehälter schrumpfen 2020 um voraussichtlich 2 Prozent. Das dämpft den privaten Verbrauch. Zwangsläufig sinken die Steuereinnahmen. Rettungsschirme für Kommunen und Verkehrsunternehmen haben die größte Not gelindert. Viele chronisch unterfinanzierte Städte und Gemeinden kämpfen aber mit klammen Kassen und strengen Schuldenregeln. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass die heimische Wirtschaft die Talsohle bereits durchschritten hat. Die Corona-Lockerungen, das 130 Milliarden schwere Konjunkturpaket und die Erholung großer Auslandsmärkte ließen den Konjunkturmotor wieder anspringen. Die Industrieproduktion wuchs im Vormonatsvergleich um ganze 10 Prozent. Die Exporte kletterten gegenüber dem Vormonat um neun Prozent. Die Einzelhändler steigerten ihre Umsätze um 14 Prozent und die Arbeits-marktlage verbessert sich. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit geht zurück und die Anzeigen auf Kurzarbeit sinken. Das sind gute Nachrichten für die Kassenwarte. Die Steuerquellen werden im nächsten Jahr wieder sprudeln. Das Finanzministerium prognos-tiziert für 2021 einen 10-prozentigen Zuwachs. Aus der wirtschaft-lichen Erholung kann im Verlauf des zweiten Halbjahrs ein selbst-tragender Aufschwung werden. Optimistische Auguren gehen davon aus, dass das Sozialprodukt im nächsten Jahr um 4 Prozent wachsen wird. Die Lohnentwicklung spielt dabei eine wichtige Rolle. Steigende Löhne erhöhen die Kaufkraft, stärken die Binnen-nachfrage, schützen so vor außenwirtschaftlichen Risiken. Kräftige Lohnzuwächse der öffentlich Beschäftigten sind dafür wichtig. Nullrunden hingegen gefährden die wirtschaftliche Erholung.

Für Kitas, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Pflegeheime braucht es mehr öffentliche Investitionen und mehr Personal

Doch damit nicht genug. Der Verteilungsspielraum des Staates ist immer auch politisch gestaltbar. Viele Bürgermeister und Kämmerer wollen jetzt Lohnverhandlungen nach Kassenlage führen. Die politischen Handlungsspielräume bei Schulden und Steuern sollen ausgeblendet werden. So soll die Tarifrunde entpolitisiert werden. Das ist nicht akzeptabel. Bund, Länder und Kommunen waren bereits vor der Pandemie chronisch unterfinanziert. Sozialstaat und Daseinsvorsorge müssen ausgebaut werden. Für gute Kitas, Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und Pflegeheime braucht es mehr öffentliche Investitionen und mehr Personal. Eine ökologische Verkehrswende erfordert einen massiven Ausbau des ÖPNV. Die zusätzlichen Investitionen sollten über Kredite, höhere Personal-ausgaben über Steuern finanziert werden.

Die Bundesregierung kann und muss die finanzielle Handlungsfähigkeit von Bund und Kommunen stärken. Die staatliche Ein-nahmebasis muss verbessert, Schuldenbremsen ausgesetzt und stark verschuldete Kommunen von Altschulden entlastet werden. Wir stehen vor großen Verteilungskonflikten. Der öffentlichen Armut steht ein gigantischer privater Reichtum gegenüber. Zwischen Kiel und München beläuft sich das Nettovermögen auf 13 Billionen Euro. Das eine Prozent Superreiche besitzt ein Drittel davon. Berlin muss jetzt Einkommen und Vermögen höher besteuern, um Sozialstaat und Daseinsvorsorge auszubauen. Die Beschäftigten verdienen spür-bare materielle Wertschätzung. Dann war der Applaus nicht umsonst.