Ausgabe 05/2020
Nächster Halt Tarifvertrag
Die Beschäftigten in den sogenannten systemrelevanten Berufen tragen eine große Verantwortung. Sie halten unsere Gesellschaft am Laufen. Ohne sie geht so gut wie nichts. Das hat die aktuelle Krise deutlich gezeigt. Dementsprechend werden sie fair bezahlt und arbeiten unter guten Arbeitsbedingungen.
Könnte man meinen. Doch die Realität sieht anders aus. Ob im Einzelhandel, in der Ver- und Entsorgung, der Logistik oder im öffentlichen Nahverkehr – das Label systemrelevant bedeutet dort oft: niedrige Löhne, wenig Anerkennung und eine dünne Personaldecke. Das Gleiche gilt für die Kranken- und Altenpflege sowie für die Reinigungsdienste in diesen Häusern. Laut dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales gelten auch der öffentliche Dienst, die Sozial- und Erziehungsdienste und die Behindertenhilfe als systemrelevante Bereiche. Welche Berufe aus diesen Bereichen als unverzichtbar eingestuft werden, legen die einzelnen Bundesländer fest.
Unbestreitbar wichtige Arbeit
Auffällig ist: landauf, landab finden sich in den Listen der systemrelevanten Berufe viele sogenannte Frauenberufe. Und so ist auch der Frauenanteil in allen systemrelevanten Berufen mit etwa 60 Prozent überdurchschnittlich hoch, wie eine Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Juni 2020 belegt. Im Einzelhandel, in der Pflege und den Sozial-und Erziehungsberufen liegt der Frauenanteil sogar bei über 80 Prozent, so der aktuelle DGB-Index Gute Arbeit (2020).
In der Krise erfahren nun genau diese Berufe viel Aufmerksamkeit. Bundesweit wurde auf Balkonen und aus Fenstern Beifall geklatscht – für die Heldinnen und Helden, die an ihre Grenzen gehen, um eine Art Alltag für uns alle aufrecht zu erhalten. Sie kümmern sich um Alte und Kranke, stellen sicher, dass Lebensmittel und Medikamente zur Verfügung stehen oder die Anträge auf Arbeitslosengeld und Corona-Hilfen zügig bearbeitet werden. Doch eines wird bei all der kollektiven Dankbarkeit häufig übersehen: Die Beschäftigten in den systemrelevanten Berufen sind keine Held*innen mit übernatürlichen Kräften. Sie sind Menschen. Menschen, die ihre unbestreitbar wichtige Arbeit häufig unter schwierigen Bedingungen leisten. Menschen, die Sicherheit, faire Löhne und ausreichend Kolleg*innen verdienen. Menschen, von denen keine übermenschlichen Leistungen erwartet werden dürfen.
Da viele Beschäftigte in der aktuellen Pandemie dennoch über ihre Grenzen hinausgehen, hat ver.di schon im März 2020 eine steuerfreie Corona-Prämie für alle systemrelevanten Berufe gefordert: Als Anerkennung für die enormen Arbeitsbelastungen sollen 500 Euro für jeden Monat gezahlt werden, in dem die Krise andauert. Neben den Arbeitgebern sieht ver.di hier auch die Politik in der Pflicht. Ein erster Teilerfolg ist schon zu verzeichnen. Seit Juli 2020 gibt es in den Einrichtungen und Diensten der Altenpflege bundesweit eine einmalige Sonderprämie für alle Beschäftigten. Sie ist nach Arbeitszeit und Tätigkeit gestaffelt und beträgt bis zu 1.500 Euro.
Doch es gibt auch Kritik an dieser Maßnahme. In den Sozialen Medien wird die Prämie von Pflegekräften unter anderem als "Schmerzensgeld" oder "Durchhaltebonus" betitelt. So schreibt etwa Jensn G.Riders unter einem Post des ver.di- Facebook-Auftritts: "Eine Prämie ist ein toller Erfolg! Keine Frage. Aber ob das wirklich einen nachhaltigen Effekt hat, zukünftig allen mutierenden und mutierten Viren und demnach bevorstehenden Pandemien zu begegnen ... fragwürdig!"
Richtig ist, dass die Pflegeprämie kein Ersatz für ausreichende Gesundheitsschutz-Maßnahmen sein darf. Richtig ist auch, dass diese Art der Anerkennung nur ein Flickenteppich bleiben kann, solange nur einige Krankenhäuser und Lebensmittelketten ihren Beschäftigten auf Druck von ver.di ebenfalls Corona-Prämien zahlen. Denn selbstverständlich haben alle Beschäftigten in systemrelevanten Berufen entsprechende Bonuszahlungen verdient. Und sogar mehr als das.
Systemrelevant und altersarm
Die Corona-Krise wirft ein besonderes Schlaglicht auf Missstände, die schon länger bekannt sind. Viele Beschäftigte in den systemrelevanten Berufen sind von Altersarmut bedroht. Besonders Frauen leiden unter den niedrigen Löhnen, da sie häufiger als Männer in Teilzeit arbeiten. Vor allem in den sogenannten Frauenberufen sind laut dem DGB-Index Gute Arbeit (2020) atypische und prekäre Beschäftigung weit verbreitet. Die Rente fällt dementsprechend gering aus. Hinzu kommen die schlechten Rahmenbedingungen, unter denen die Beschäftigten schon vor der Krise arbeiten mussten. Die für Gesellschaft und Wirtschaft unverzichtbaren Berufe sind für junge Beschäftigte zunehmend unattraktiv, in der Folge mangelt es an Nachwuchs und ausreichend Personal. Einmalige Sonderzahlungen sind also unbürokratische Sofortmaßnahmen. Sie reichen aber nicht aus, um diesen Problemen strukturell entgegenzuwirken.
Und doch steckt in der Corona-Krise auch eine Chance. Denn die öffentliche Aufmerksamkeit für die niedrigbezahlten Berufe aus dem Bereich der Daseinsvorsorge war schon lange nicht mehr so hoch. Diese Anerkennung der ersten Pandemie-Monate darf sich nicht verflüchtigen. Es gilt nun, sie in einen nachhaltigen Sinneswandel zu überführen. Hin zu einer Wertschätzung, die aus mehr als ideellem Applaus und Einmalzahlungen besteht. Zeitgleich mit der Forderung nach Corona-Prämien hat ver.di deshalb schon im März 2020 angekündigt, sich auch nach der Pandemie gemeinsam mit den Beschäftigten für bessere Arbeitsbedingungen in den systemrelevanten Berufen einzusetzen. Denn die unfreiwilligen Heldinnen und Helden müssen ebenso geschützt werden wie alle anderen Beschäftigten. Und das geht am besten mit Tarifverträgen. Sie sichern gute Löhne und Gehälter und sorgen dafür, dass die Wertschätzung finanziell spürbar ist. Und zwar dauerhaft.
Um diesem Ziel näher zu kommen, müssen Arbeitgeber und Politik mit den Gewerkschaften an einem Strang ziehen. Die Tarifverhandlungen von ver.di mit der Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche weisen in die richtige Richtung. Denn einmal verhandelt, soll dieser Tarifvertrag in der Folge von Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) auf die gesamte Altenpflege erstreckt werden. Darüber hinaus bleiben bereits existierende, bessere Tarifverträge weiter bestehen. Ein Modell, das auch für andere systemrelevante und damit unverzichtbare Berufe denkbar ist. Denn das Label systemrelevant muss zukünftig gleichbedeutend sein mit fairer Bezahlung und guten Rahmenbedingungen. Alles andere wäre ein echter Grund das Wort 'systemrelevant' zum Unwort des Jahres zu küren.