Ausgabe 06/2020
Und dahinter rotiert die Zukunft
Als Simon Quacks Vater begann, bei RWE zu lernen und zu arbeiten, galt das Braunkohlekraftwerk in Niederaußem als eines der modernsten der Welt. An kaum einem Ort in Europa wurde Ende der 1980er Jahre mehr Strom produziert als in dem kleinen Stadtteil von Bergheim, dessen geduckte Häuser vor den Kühltürmen und dem gigantischen Kesselhaus aussehen wie Legobausteine. Der Kühlturm galt als höchster, ein 2002 im Beisein vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder ans Netz gegangener Block als modernster der Welt. Derweil Lukas Podolski seine Profikarriere beim 1. FC Köln startete und der Blick der Sportwelt sich auf Poldis Heimatstadt Bergheim richtete, spielte das Rheinische Braunkohlerevier bei der Stromerzeugung längst in der Champions League.
"Dieses riesige Kraftwerk, das Millionen Menschen mit Strom versorgt, hat mich schon als Junge fasziniert", sagt Simon Quack, dessen halbe Familie für den Konzern arbeitet: der Vater, der Onkel, der jüngere Bruder.
Mitten im fossilen Zeitalter
Es ist Anfang September, das Kraftwerk qualmt stoisch dem Ende des fossilen Zeitalters entgegen, im nahen Garzweiler haben Klimaaktivisten vor ein paar Tagen einen Kohlebagger besetzt und gegen die Umsiedlung ihrer Dörfer demonstriert. Dass Klimademonstranten RWE und andere Stromkonzerne als "Feinde der Gesellschaft" bezeichnen, wundert schon lange niemanden mehr. Dass Menschen, die von Feinden sprechen, in der Regel kein Interesse daran haben, zu verstehen, was der andere denkt und fühlt, auch nicht.
Simon Quacks Ausstrahlung passt eher zum spätsommerlichen Morgenleuchten denn zu Rauch und Revolte. Längst ist der 24-Jährige, der in seiner Freizeit unverkennbar Kraftsport betreibt, nicht nur Elektroniker, der mit Messungen, Wartungen und Instandhaltungen hilft, dass es nicht zum Ausfall eines Kraftwerkblocks kommt. Quack ist Vorsitzender der Gesamtjugend- und Auszubildendenvertretung sowie der Konzernjugend von RWE Power – und einer der Vertrauensleutesprecher von ver.di. Um die Interessen der Jugend zu vertreten, saß er bei den Sitzungen zum Tarifvertrag Kohleausstieg mit am Verhandlungstisch.
Wenn er sich beim Kaffee auf Abstand in der Cafeteria des Ausbildungszentrums an die Videokonferenzen und Gespräche erinnert, die dazu beitrugen, den Tarifvertrag auszuhandeln, sieht Quack aus, als hätte er einen Schluck Zaubertrank genommen. "Unsere Verhandlungsführer von ver.di haben von einem fast historischen Vertrag gesprochen, und genau so fühlt sich das für mich auch an", sagt er. "Bei normalen Tarifverhandlungen geht es um Ergebnisse für maximal ein paar Jahre, jetzt ging es darum, die Zukunft von Kolleginnen und Kollegen bis zum Jahr 2038 und darüber hinaus abzusichern – und ich denke, das ist uns gelungen."
Besonders wichtig sei es ihm gewesen, dass die Ausbildungsjahrgänge "2017, 2018 und 2019 unbefristet übernommen werden, das Ausbildungsniveau bis mindestens 2025 gehalten wird, und die Leute, die spätestens 2038 ausscheiden, so weiterqualifiziert werden, dass sie auf dem Arbeitsmarkt gut aufgestellt sind. Mir ist da wirklich ein Stein vom Herzen gefallen, und ich glaube, es geht sehr vielen so." Quack strahlt mit jedem Satz und jeder Geste Gelassenheit und Optimismus aus.
Engmaschiges Sicherheitsnetz für alle
Das war nicht immer so. Quacks gute Laune liegt auch darin begründet, dass er miterlebt und mitgestaltet hat, wie ver.di und die Arbeitgeber sich auf ein engmaschiges Sicherheitsnetz für alle vom Auslaufen der Kohleverstromung betroffenen Beschäftigten geeinigt haben. Betriebsbedingte Kündigungen werden für den gesamten Ausstiegspfad ausgeschlossen, die betriebliche Altersvorsorge wird nicht gekürzt, das Anpassungsgeld aufgestockt, Weiterbildungen werden bezahlt und alternative Arbeitsplätze vermittelt. Details werden in Betriebsvereinbarungen und Interessenausgleichen geregelt. Allein bei RWE sind rund 10.000 Beschäftigte von dem Abschluss tangiert.
"Dass es wichtig ist, solidarisch zu handeln, habe ich schon als Kind gelernt, da hat mich mein Vater mitgenommen zu den Demonstrationen am 1. Mai", erinnert sich Quack bei einem Rundgang durch das Ausbildungszentrum. "Kluge Arbeitgeber wissen, dass die Beschäftigten ihr wichtigster Wert sind, in den sie investieren müssen. Es geht ja immer nach einem einfachen Prinzip: Wenn Du mich unterstützt, unterstütze ich Dich. Interessen müssen ausgehandelt werden, jeder bewegt sich auf den anderen zu. Dann läuft der Laden. Ein Tarifvertrag wie der jetzt ausgehandelte hilft dabei sehr."
Im Ausbildungszentrum, in dem 170 junge Menschen zu Mechatronikern und Elektronikern ausgebildet werden, läuft der Laden an diesem Spätsommervormittag ziemlich ruhig. Die Azubis sitzen mit Masken und Abstand in den Seminar- und Werkräumen, in die Pausen gehen sie zeitversetzt, um sich nicht zu nahe zu kommen. Die Werkstatt mit den Schweißkabinen, Drehbänken und CNC-Fräsen ist verwaist. Aus den Seminarräumen dringen gedämpfte Stimmen. Die Elektroniker für Betriebstechnik im zweiten Ausbildungsjahr bereiten sich auf ihre theoretische Zwischenprüfung vor, die im Frühjahr dem Lockdown zum Opfer gefallen ist. Auf den Tischen liegen Elektrotechnik-Bücher, auf die Whiteboards sind mathematische Formeln gekritzelt. Vor jedem Seminarraum und jeder Werkstatt prangt ein Schild mit dem Hinweis, wie viele Personen maximal gleichzeitig drinnen sein dürfen.
Pandemiebedingt waren auch die Verhandlungen, die zum Tarifvertrag Kohleausstieg führten, in den vergangenen Monaten eine Herausforderung. "Sich über Videokonferenzen auszutauschen, ist einfach anders, als an einem Tisch zu sitzen, vor allem, wenn es ums Eingemachte geht", sagt Quack. Auch die Kommunikation des Tarifvertrags sei schwieriger gewesen. "Es gibt zwar Flugblätter, Videobotschaften und Bekanntgaben im Intranet, trotzdem weiß noch nicht jeder richtig Bescheid", sagt Quack. "Der Wunsch nach einer Betriebsversammlung ist gerade ziemlich groß."
"Wir sind wohl alle dafür, so schnell wie möglich aus der Braunkohle auszusteigen, nur gibt es so schnell gar nicht ausreichend Speicherkapazitäten. Von meinen Freundinnen wissen viele gar nicht, wie die Stromerzeugung funktioniert. Aber ich erkläre ihnen das gern." Lea Fink, in der Ausbildung zur Elektronikerin im RWE-Braunkohlekraftwerk Niederaußem
Lea Fink und Abdurrahman Kosan, Elektroniker-Azubis im zweiten Lehrjahr, sind überrascht, als Quack sie im Seminarraum über die Ergebnisse informiert. "Dass ihr – sofern ihr einen ordentlichen Abschluss macht – alle unbefristet übernommen werdet, ist schon sehr gut", sagt der Jugend-Vertreter. "Das war in der Vergangenheit nicht immer so. Vor allem freut mich, dass die Arbeitgeber auch zugesichert haben, Weiterbildungsmaßnahmen zu finanzieren und niemandem betriebsbedingt zu kündigen." "Ein unbefristeter Vertrag, das gibt einem schon ein sicheres Gefühl", sagt Fink. "Hört sich sehr gut an", sagt Kosan. "Aber wir werden ja eh sehr gut ausgebildet hier und haben eigentlich keine Sorgen." Keine Sorgen? Das war nicht immer so – und geht nicht allen so.
Die Stimmen nach einem raschen Kohleausstieg sind in den vergangenen Jahren nicht nur immer lauter geworden – die gesellschaftlichen Gräben haben sich im Zuge der jahrelangen Proteste der Kohlegegner und den Rufen nach einer schnelleren Energiewende auch vertieft. Nicht selten werden Beschäftigte von Tagebauen und Kohlekraftwerken öffentlich diffamiert. Die einstigen Champions-League-Teilnehmer, die von internationalen Wirtschaftsplayern gefeiert wurden, werden geschnitten und ausgebuht. Die Kohlegegner argumentieren, dass nur noch Blockaden und Besetzungen helfen – und werden bejubelt. Auch wenn sie rufen "Die Natur verhandelt nicht! Kraftwerke sofort abschalten!", brandet aus der Öffentlichkeit in der Regel Applaus auf. Dass es in der parlamentarischen Demokratie darum geht, möglichst viele Perspektiven und vermeintliche Wahrheiten zu berücksichtigen, um darauf basierend Kompromisse zu finden – scheint nicht mehr zeitgemäß.
"Natürlich lässt einen das nicht kalt, wenn in der Öffentlichkeit ständig gefordert wird, die Kohlekraftwerke schnellstmöglich abzuschalten", sagt Elektroniker-Azubi Kosan. "Von außen kann man das ja leicht fordern, ich kann das sogar nachvollziehen – aber da hängen tausende Existenzen dran." "Die Debatte um den Kohleausstieg hat uns alle verunsichert, ich nehme mich da nicht aus", sagt Quack. "Aber mit dem Tarifvertrag wissen wir jetzt, wie der Ausstieg gestaltet werden soll. Das gibt Sicherheit – auch wenn wir nicht beeinflussen können, ob die Kraftwerke nicht doch schon ein paar Jahre früher abgeschaltet werden."
Lea Fink und Abdurrahman Kosan haben ähnliche Werdegänge wie Simon Quack: Teile der Familie waren oder sind bei RWE, über Jahrzehnte war es für Familien aus der Region selbstverständlich, ihre Leben rund um die Arbeit in den großen Kraftwerken und Tagebauen zu planen. Eine erfolgreiche Ausbildung bei dem Konzern bedeutete fast automatisch berufliche Planungssicherheit bis zur Rente.
Bis die Rufe nach dem Ende der fossilen Energieträger lauter wurden und die Bundesregierung schließlich einen Ausstieg aus der Kohle beschloss. Nun befinden sich Quack, Fink, Kosan & Co. im Zentrum des Strukturwandels und einer oft überhitzten Debatte. Der Hambacher Forst wurde zum Symbol für den Kampf um die Energiewende. Die Jugendbewegung Fridays For Future kämpft weltweit für einen schnellen Abschied von fossilen Energieträgern.
Was die Gesellschaft entzweit, sehen die Jugendlichen im Kraftwerk Niederaußem möglichst entspannt: "Wir sind wohl alle dafür, so schnell wie möglich aus der Braunkohle auszusteigen, nur gibt es so schnell gar nicht ausreichend Speicherkapazitäten", sagt Lea Fink. "Von meinen Freundinnen wissen viele gar nicht, wie die Stromerzeugung funktioniert. Aber ich erkläre ihnen das gern." "Letztlich wollen wir alle, dass auch unsere Kinder noch eine lebenswerte Erde mit intakter Natur vorfinden", sagt Kosan.
"Was uns ganz wichtig ist: Wir sind keine Leute, die den Strukturwandel nicht wollen, im Gegenteil: Wir gestalten ihn mit und stehen voll dahinter." Simon Quack, Vorsitzender der Gesamtjugend- und Auszubildendenvertretung sowie der Konzernjugend von RWE Power
"Die Diskussion, ob es sinnvoll ist, aus der Braunkohle auszusteigen, müssen wir gar nicht führen", sagt Quack. "Ich finde es nur schade, dass viele der Leute, die auf die Kohle schimpfen, sich mit dem Thema Energieerzeugung wenig auskennen. Das sollte aber eigentlich die Grundlage sein, um zu diskutieren. Was uns ganz wichtig ist: Wir sind keine Leute, die den Strukturwandel nicht wollen, im Gegenteil: Wir gestalten ihn mit und stehen voll dahinter."
Erklären und diskutieren, das ist für Simon Quack als ver.di-Vertrauensmann und Azubi-Vertreter des Unternehmens Alltag. Regelmäßig sprechen Lehrlinge ihn auf den Gängen an: Es geht um Verträge, Weiterbildungsmöglichkeiten, Wahlen zu Jugendvertretungen, Zukunftsperspektiven im Konzern. "Natürlich war in den vergangenen Jahren auch oft Verunsicherung zu spüren, weil eben nicht klar war, was mit den Kraftwerken und dem Tagebau passiert", sagt Quack.
Fast alle im Ausbildungszentrum kennen die Geschichten von einigen der älteren Kollegen, die am eigenen Leibe erfahren haben, was der Strukturwandel, der neben dem Kohleausstieg auch den Ausstieg aus der Kernkraft beinhaltet, bedeuten kann: Umzüge von einem Ende des Landes ans andere, bedingungslose Flexibilität in Zeiten, in denen man gern abseits der Arbeit eine Familie gründen und ein Haus bauen würde, Zukunftsängste.
Die Unsicherheit, hofft Simon Quack, "dürfte vor allem den jungen Kolleginnen und Kollegen mit dem Tarifvertrag Kohleausstieg ein Stück weit genommen sein". Er selbst habe keine Sorge um seinen Arbeitsplatz in Niederaußem, dessen letzter Block spätestens 2038 vom Netz gehen sollen – im Gegenteil. Er hat nach seiner Ausbildung bei RWE bei einem kleineren Unternehmen für erneuerbare Energien gearbeitet, das vornehmlich Messsysteme für Prototypen von Windkraftanlagen entwickelt und betreibt – und ist aus freien Stücken zurückgekehrt. "Mich fasziniert die Arbeit in großen Kraftwerken einfach mehr", sagt er. "Und eine gute Perspektive sehe ich hier auch."
Unklarheit herrscht im Ausbildungszentrum am Braunkohlekraftwerk Niederaußem aktuell vornehmlich darüber, wie sich in Pandemiezeiten eine ordentliche Betriebsversammlung organisieren lässt – um Details des "TV Kohleausstieg" zu kommunizieren. "Nachgedacht wurde schon über einen Fußballplatz mit Abstandsmarkierungen oder ein Autokino, die ja gerade wieder in Mode sind", sagt Quack. Vom Rasenplatz in Bergheim-Auenheim hätten die Beschäftigten einen guten Blick auf die Kühltürme. Dahinter rotiert auf den Feldern die Zukunft: Windräder, soweit das Auge reicht.
JAV-Wahlen: Wählen oder wählen lassen?
Alle zwei Jahre finden bundesweit die Wahlen zu den Jugend- und Auszubildendenvertretungen (JAV) statt. In allen Branchen. In der Regel wird immer in den geraden Kalenderjahren jeweils im Oktober und November gewählt, also auch in diesem Jahr vom 1. Oktober bis zum 30. November. Der genaue Wahltermin richtet sich nach dem Ende der Amtszeit der vorherigen JAV. Diese läuft exakt zwei Jahre nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses aus. Gibt es noch keine JAV im Betrieb, kann der genaue Wahltag frei festgelegt werden. Also: Lemming ohne Plan oder Häuptling mit Ideen? Gehe wählen oder lass dich wählen.
Wie? Das erfährst Du alles unter jav.info