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Beim „Internationalen Tag der Pflegenden“ am 12. Mai 2021 protestierten Beschäftigte der Berliner Krankenhäuser in der StadtmitteFoto: Kay Herschelmann

Der Berliner Intensivpfleger Christoph Hartl war schon kurz davor, seinen Beruf aufzugeben. Vor einem halben Jahr reduzierte er seine Stelle auf der Intensivstation des Charité-Campus Mitte auf 50 Prozent, um sich in der freien Zeit anderweitig zu orientieren. "Ich mag die Pflege wahnsinnig gern. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, unter diesen Bedingungen noch 40 Jahre zu arbeiten", sagt der 25-Jährige. Deshalb unternahm er zugleich einen letzten Versuch, die Verhältnisse zu verändern. "Ich habe gesehen, was andere gewerkschaftlich gut organisierte Berufsgruppen erreichen, zum Beispiel die Lokführer, deshalb bin ich ver.di beigetreten."

In seinem 70-köpfigen Team war er damit allerdings zunächst einer von wenigen Gewerkschaftsmitgliedern. Es wurde zwar viel über die schlechten Arbeitsbedingungen geschimpft – darüber, dass Pausen nicht genommen, Patient*innen nicht optimal versorgt werden können. Dass sich der Arbeitsdruck durch die Corona-Pandemie noch weiter verschärfte und aus dem Klatschen im Bundestag keine Konsequenzen folgten. Doch den Pflegekräften fehlte offenbar eine Vorstellung davon, wie sie das ändern könnten.

"Da ist der Funke übergesprungen."
Christoph Hartl, Intensivpfleger

Starke Ansage

Im März nahmen Christoph Hartl und eine Kollegin, die als Leasingkraft auf der Station eingesetzt ist, an einem "Intensivtraining" von ver.di teil. "Da haben wir gelernt, wie man Leute anspricht und zielgerichtet Gespräche führt", sagt der Intensivpfleger. "Danach haben wir mit jeder Kollegin und jedem Kollegen einzeln gesprochen. Das hat vier Wochen gedauert. Das Ergebnis ist, dass alle bis auf zwei die Petition unterschrieben haben."

Die Petition – das ist nicht nur eine weitere Unterschriftensammlung, mit denen Gesundheitsbeschäftigte an die politisch Verantwortlichen appellieren, endlich zu handeln. Es ist eine sehr konkrete, starke Ansage: Entweder sorgen Landespolitik und Arbeitgeber innerhalb von 100 Tagen dafür, dass in den öffentlichen Krankenhäusern Berlins wirksame Entlastungs-Tarifverträge mit ver.di geschlossen werden und dass in allen Konzernteilen der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) eingeführt wird – oder es wird gestreikt, und zwar mitten im Wahlkampf für den Bundestag und das Berliner Abgeordnetenhaus.

Unterschrieben hat dieses Ultimatum die große Mehrheit der Beschäftigten der öffentlichen Krankenhausbetreiber Vivantes und Charité sowie ihrer Tochterunternehmen. Bei einer Aktion zum "Tag der Pflegenden" am 12. Mai vor dem Roten Rathaus wurden insgesamt 8.397 Unterschriften an Senat und Arbeitgeber überreicht. Das entspricht 63 Prozent aller Beschäftigten, die von den geforderten Tarifverträgen profitieren würden. Teams aus 297 Stationen und Bereichen haben sich mehrheitlich dem Ultimatum angeschlossen.

"Wir haben gelernt, dass wir es selbst in die Hand nehmen müssen und nicht darauf warten dürfen, dass andere die Probleme für uns lösen", sagte die Intensivpflegerin und Gesamtpersonalratsvorsitzende der Charité, Dana Lützkendorf, bei der Kundgebung. "Wir müssen uns in den Betrieben organisieren und wirklich viele sein, dann können wir etwas erreichen." Schon zum Auftakt der Kampagne hat ver.di dabei enorme Fortschritte gemacht: Seit März traten mehr als 400 Beschäftigte der Gewerkschaft bei.

Darunter sind auch viele Kolleg*innen von Christoph Hartl. "Wir waren am 12. Mai mit 22 Leuten bei der Kundgebung – da ist der Funke übergesprungen", sagt der Aktivist. "Als wir danach im Park zusammensaßen, sind gleich fünf eingetreten. Es ist ein tolles Gefühl, selbst mitbestimmen und die eigenen Arbeitsbedingungen beeinflussen zu können."

Die Mehrheit

Die Physiotherapeutin Lynn Stephainski machte zur gleichen Zeit am selben Ort eine ganz ähnliche Erfahrung. Zum ersten Mal hatten sie und ihre Kolleg*innen der Vivantes Rehabilitations GmbH einen Warnstreik auf die Beine gestellt, um ihrer Forderung nach Übernahme des TVöD in den Tochterunternehmen Nachdruck zu verleihen. Zwei Drittel der Belegschaft beteiligten sich und kamen zur gemeinsamen Kundgebung vor dem Roten Rathaus, fünf Beschäftigte unterschrieben dort den ver.di-Mitgliedsantrag. Noch vor Kurzem war nur eine Handvoll der insgesamt 69 nicht-ärztlichen Kolleg*innen organisiert gewesen. Jetzt ist es die Mehrheit.

Um sie zum Eintritt zu bewegen, reiche es manchmal schon, die Zahlen zu verdeutlichen, erklärt Stephainski: Bis zu 1.000 Euro monatlich bekommen die Beschäftigten der Reha-Tochter weniger als ihre Kolleg*innen bei Vivantes, wo der TVöD gilt – für dieselbe Arbeit. "Ich habe gerade erst mit einer Kollegin gesprochen, die seit 40 Jahren als Masseurin und medizinische Bademeisterin arbeitet und weniger als den Berliner Vergabemindestlohn von 12,72 Euro pro Stunde verdient", erzählt die 31-Jährige. "Diese Ungerechtigkeit wollen wir beseitigen. Gerade bei solchen Löhnen geht das aber nur mit Streikgeld und einer starken Gewerkschaft – wir brauchen ver.di, das wird immer mehr meiner Kolleginnen klar."

"Entweder wir kämpfen jetzt gemeinsam, oder es bricht alles zusammen."
Jeannine Sturm, Krankenpflegerin Charité

Die Gewerkschaft hat für sechs Klinik-Töchter eine gemeinsame Tarifkommission gebildet, um über die Angleichung an den TVöD zu verhandeln. Doch obwohl das Berliner Abgeordnetenhaus schon vor längerer Zeit beschlossen hat, dass in allen kommunalen Tochterunternehmen nach dem branchenüblichen Tarifvertrag bezahlt werden soll, stellen die Arbeitgeber auf stur. Die Labor Berlin GmbH, die Charité und Vivantes zu gleichen Teilen gehört, verweigert Tarifverhandlungen sogar grundsätzlich und will die gewählten Mitglieder der ver.di-Tarifkommission nicht freistellen.

"Das ist ein Riesen-Skandal – gerade in Anbetracht dessen, was die Laborangestellten in der Pandemie leisten", sagt Meike Jäger, Bereichsleiterin für das Gesundheitswesen bei ver.di in Berlin und Brandenburg. "Der Branchentarifvertrag ist ganz klar der TVöD und nichts anderes. Wir können gerne über den Weg dorthin verhandeln, aber das Ziel muss am Ende erreicht sein: gleicher Lohn für gleiche Arbeit."

Druck auf die Politik

Das Ultimatum läuft am 20. August ab. Bis dahin müssen Tarifverhandlungen aufgenommen und möglichst schon wirksame Maßnahmen zur Entlastung der Klinikbelegschaften vereinbart worden sein. Sonst droht ein Arbeitskampf. Die Beschäftigten der Charité hatten 2015 schon einmal zehn Tage lang die Arbeit niedergelegt, um als erstes Krankenhaus in Deutschland einen Entlastungs-Tarifvertrag durchzusetzen. Mittlerweile gibt es bundesweit an 17 Großkrankenhäusern solche Vereinbarungen. Die zuletzt an den Unikliniken in Schleswig-Holstein, Mainz, Jena, Augsburg und Homburg erreichten Verträge sehen einen individuellen Belastungsausgleich in Form zusätzlicher freier Tage vor, wenn Beschäftigte mehrfach in unterbesetzten Schichten arbeiten müssen. "Das holen wir uns jetzt auch", erklärt ver.di-Verhandlungsführerin Jäger. "Der drohende Konflikt wird auch in den Wahlkampf hineinspielen – wir erwarten von allen Kandidatinnen und Kandidaten eine klare Positionierung für gute Arbeitsbedingungen an der Charité und bei Vivantes."

Vertreter*innen der aktuellen Senatsparteien SPD, Linke und Grüne bekundeten bei Verkündung des Ultimatums am "Tag der Pflegenden" bereits ihre Unterstützung für die ver.di-Forderungen. Doch die Beschäftigten wollen Taten sehen. "Wir haben keine Wahl", betont die Krankenpflegerin Jeannine Sturm von der Charité. "Entweder wir kämpfen jetzt gemeinsam oder es bricht alles zusammen."