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Philip im Edeka-WarenlagerFoto: Privat

Philip W., 33, ist Reiseverkehrskaufmann bei einem Fernreiseveranstalter, immer noch in 100 Prozent Kurzarbeit. Ab Oktober ist Philip freigestellt, für ein Jahr ist er dann Student an der Europäischen Akademie der Arbeit

"Vor ziemlich genau zwölf Monaten war ich in Kurzarbeit Null. Das ist auch weiterhin so. Die Nachfrage, die Buchungen haben nicht angezogen. Da sind wir, was den ganzen Markt betrifft, auch doppelt gekniffen. Wir sind Westafrika-Spezialist, und die Länder lassen entweder keinen rein oder sind Hochrisikogebiete. Wenn du zurück nach Deutschland reist, kannst du dich darauf einstellen, in Quarantäne gehen und dich testen lassen zu müssen. Zudem haben viele Leute keine Lust, in Ghana, Togo, Benin, Elfenbeinküste, wo auch immer, an Corona zu erkranken. Und erstaunlicherweise sind viele Leute auch solidarisch und denken, ich will den Virus nicht aktiv nach Afrika einschleppen und dann dort der Blöde sein.

Man kann sich natürlich die Sinnfrage stellen, warum man in einem Unternehmen bleiben sollte, was einem zwei bis drei Jahre keine Arbeit zur Verfügung stellen kann. Das ist echt eine Gratwanderung, da geht auch jeder anders mit um.

Mein Chef friert die Firma erstmal ein. Er arbeitet ohnehin noch als Journalist und Fußballscout, hat also ein Einkommen und kann das Unternehmen deshalb auf Eis legen. Die anderen Angestellten haben teilweise Ehepartner, die Geld verdienen. Sie sind offensichtlich nicht so stark wie ich auf ein Einkommen angewiesen. Man kann sich natürlich die Sinnfrage stellen, warum man in einem Unternehmen bleiben sollte, was einem zwei bis drei Jahre keine Arbeit zur Verfügung stellen kann. Das ist echt eine Gratwanderung, da geht auch jeder anders mit um.

In den letzten zwölf Monaten habe ich deshalb weiterhin meine Projekte in der "Interessengemeinschaft Kurzarbeit" verfolgt. Wir haben eine Webseite – igkurzarbeit.de – gebaut, mit unseren Forderungen unter anderem nach höherem Kurzarbeitergeld für Menschen mit niedrigem Einkommen. Ich musste mir auch einen Nebenjob suchen, weil irgendwann die Ersparnisse weg waren. Ich habe bei Edeka im Lager in Moers angefangen, mittlerweile bin ich im Zentrallager in Oberhausen. Dort mache ich die Warenbereitstellung für Supermärkte. Das macht auch Spaß. Ich habe tolle Kollegen, es gibt einen Betriebsrat und einen Vertrauensmann, beide sehr aktiv. Ich war tatsächlich auch beim ersten Streik Ende Juni dabei, endlich durfte ich mal an einem Streik teilnehmen! Das ist für jemanden aus einer kleinen Firma ungewohnt. Wir waren im Bergbaumuseum Bochum beim Streik. Da sind trotz Corona und trotz schwieriger wirtschaftlicher Lage 2.500 Beschäftigte aufgelaufen. Das war einer der größten Streiks im Handel, würde ich behaupten.

Nebenbei habe ich mich aber auch bei der EAdA, der Europäischen Akademie der Arbeit beworben, durfte die schriftliche und mündliche Prüfung machen und habe es tatsächlich auch geschafft, angenommen zu werden, ohne langjährige Erfahrungen als Betriebsrat oder Ähnliches vorweisen zu können. Gerade in der mündlichen Prüfung haben sie mein Kurzarbeits-Projekt total toll gefunden. Es sei super, dass ich das mehr oder weniger allein gemacht, etwas für viele aufgebaut habe. Ich habe mich sehr gefreut über den Zuspruch von Leuten, die von Kurzarbeit nicht selbst betroffen sind. Von politischen Parteien, die wir angesprochen haben – SPD, CDU, wir haben uns auch an Grüne und Linke gewandt – kam oft nur zurück, wir verstehen überhaupt nicht, was euer Problem ist. Wir haben Millionen Jobs gerettet – was wollt ihr denn? Da herrscht ein extrem niedriges Problembewusstsein, obwohl man genau weiß, so richtig toll ist das nicht.

In den letzten zwölf Monaten habe ich auch keine berufliche Weiterqualifizierung von meinem Arbeitgeber angeboten bekommen. Auch vom Jobcenter hat niemand mal gefragt, siehst du dich denn in Zukunft auch noch in dieser Firma, oder was müssten wir machen, um dich für den Arbeitsmarkt zu qualifizieren? Es wurde nichts gemacht, das Problem wurde einfach wieder und wieder nach hinten vertagt. Wie lange soll das noch so gehen? Es gibt eine Menge Beschäftigte, deren Job ist nach wie vor nicht existent. Was wird unternommen, damit sie wieder halbwegs in den Alltag zurückfinden?

Der Lehrgang an der EAdA geht am 1. Oktober los. Im Vorbereitungskurs war ich total eingeschüchtert, weil die Leute, die dabei waren, schon auf dutzenden Gewerkschaftsseminaren waren oder in einer Jugend- und Auszubildendenvertretung, die haben quasi diese ganze Struktur schon einmal durchgespielt. Und ich komme da hin und weiß nicht, was ablaufen wird. Ich hatte auch keine Vorstellungen, was beim Vorbereitungskurs abgefragt wird. Aber mich haben alle mit offenen Armen empfangen und alle fanden es spannend, was ich gemacht habe. Es ist ein Supergefühl, wenn man irgendwo hingeht und denkt, man sei ein Alien, und dann kommen alle Leute und sagen: klasse. Und die beiden Kollegen, die den Prüfungsvorbereitungskurs geleitet haben, haben mir die ganzen Fragezeichen überm Kopf genommen. Das ist gewerkschaftsübergreifende Solidarität. In diesem Jahrgang bin ich der einzige ver.dianer und ich freue mich jetzt auf die nächsten elf Monate an der EAdA, das wird garantiert eine spannende Zeit.

Wenn man es positiv sehen möchte, hat die Krise etwas in mir geweckt: Ich bin ins kalte Wasser gesprungen. Ich halte nicht mehr an einer Sache fest, die zwar jahrelang toll für mich gewesen ist, aber so nicht mehr existiert. Ich mache einfach etwas anderes. Für diese Chance, für diesen Weckruf bin ich auch dankbar."

Wie es für Philip weitergeht

In den kommenden Ausgaben der ver.di publik wird Philip über sein Studium an der EAdA in einem Art Logbuch berichten. Die EAdA ist eine gemeinnützige Stiftung und bildet Arbeitnehmer*innen ohne Abitur für ihre Aufgaben im wirtschaftlichen und öffentlichen Leben aus. Die Studienschwerpunkte liegen dabei auf dem deutschen und europäischen Arbeitsrecht, der Mitbestimmung, der Gleichbehandlung im Betrieb, auf dem Wandel der Interessenvertretung im betrieblichen und wirtschaftlichen Strukturwandel sowie in Fragen der Sozialpolitik. Mehr Infos unter