ver.di publik – Die Inflationsrate lag im September bei 4,1 Prozent. Was hat dazu geführt?

Sebastian Dullien – Wir haben zur Zeit eine Reihe von Sonderfaktoren. Zum ­einen ist die Mehrwertsteuer ab 1. Juli 2020 vorübergehend gesenkt worden. Das ist zum 31. Dezember 2020 ausgelaufen, dadurch sind die Preise in diesem Jahr wieder höher. Zum anderen waren die Energiepreise in der Corona-Krise sehr niedrig, die haben sich jetzt auch wieder normalisiert, die Preise sind sogar etwas stärker gestiegen. Auch das macht etwa einen Prozentpunkt der Inflationsrate aus. Der dritte Punkt ist, dass wir seit Jahresbeginn eine CO₂-Abgabe auf Heizöl, Benzin und Gas haben. Zu guter Letzt haben wir gestörte Lieferketten. Auch das treibt die Preise hoch.

Der Mehrwertsteuereffekt fällt ab Januar weg. Sinkt dann die Inflationsrate wieder?

Wir gehen davon aus, dass die Inflationsrate bereits im Januar wieder sehr deutlich zurückgehen wird. Allerdings werden ein paar der anderen Faktoren nicht so klar zum 1. Januar wegfallen: Die Energiepreise werden noch ein bisschen länger hoch bleiben, auch die Lieferkettenprobleme bleiben wohl noch eine Weile bestehen.

Im Januar steht die zweite Stufe der CO₂-Bepreisung an. Wird das die Inflationsrate noch etwas höher halten?

Die CO₂-Bepreisung wurde im Januar dieses Jahres eingeführt – mit 25 Euro pro ­Tonne. Der Sprung, der jetzt im Januar 2022 kommt, ist wesentlich kleiner. Da würde ich davon ausgehen, dass das vielleicht 0,1 Prozentpunkt bei der Inflation ausmacht.

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Sebastian Dullien ist wissen­schaftlicher Direktor am Institut für ­Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-StiftungFoto: Peter Himsel

Sie haben die steigenden Preise durch die Probleme in den Lieferketten angesprochen. Müssen wir uns grundsätzlich auf ein höheres Preisniveau einstellen?

Bei vielen Dingen glaube ich nicht, dass es dadurch langfristig steigende Preise geben wird. Nehmen wir das Beispiel Automobile. Zur Zeit fehlen Halbleiter, daher können Autos nicht produziert werden. Das heißt, die Autohändler geben zur Zeit keine Rabatte. Wer keinen Neuwagen kaufen kann, kauft einen Gebrauchtwagen – und dann steigt der Preis dort. Wenn wieder normal produziert wird, ist davon auszugehen, dass sich zumindest ein Teil dieses Effekts ­wieder zurückbildet.

Auch die Preise für Rohstoffe wie Papier oder für einige Nahrungsmittel steigen. Das trifft Haushalte mit geringeren Einkommen stärker, weil die Ausgaben für diese Produkte einen höheren Anteil an den Gesamtausgaben haben. Wie wird sich das auswirken?

Es ist keine Frage, dass diese Preiser­höhungen, die wir im Moment haben, bestimmte Haushalte besonders belasten. Vier Prozent Preiserhöhungen sind spürbar, insbesondere wenn das Pendlerhaushalte sind oder Haushalte mit ­alten Heizungen. Da braucht man gar nicht drum herumzureden. Die Frage ist, wie anhaltend das bleibt. Wir haben bei einigen dieser alltäglichen Produkte jetzt die Preissteigerung aus den verschiedensten Gründen, wie gestörte Lieferketten und eine durch Corona gestörte Produktion. Da kann man davon ausgehen, dass sich das alles nach und nach normalisiert und dann auch diese Preise nicht unbedingt so hoch bleiben, wie sie jetzt sind.

Kann man Preisanstieg und Inflation gleichsetzen?

Wir differenzieren immer ­zwischen einmaligen Preisanstiegen oder Preisschocks und Inflation. Inflation ist für uns ein Prozess, wo Löhne stärker steigen und dann auch Preise stärker steigen, wo sich das quasi aufschaukelt. In der öffentlichen Darstellung wird das nicht ganz so getrennt, dort wird von den gemessenen Preiserhöhungen als Inflation geredet. Darum geht das in der öffentlichen Debatte ein bisschen durcheinander. Zur Zeit würde ich sagen: Das allermeiste, was wir sehen, sind noch Preisschübe, also noch kein anhaltender Prozess.

"Wir gehen davon aus, dass die Inflationsrate bereits im Januar wieder sehr deutlich zurückgehen wird"

Die Arbeitgeber warnen in den aktuellen Tarifverhandlungen vor einer drohenden Lohn-Preis-Spirale. Sehen Sie das als realistische Gefahr?

Ich sehe zur Zeit keinerlei Anzeichen für eine Lohn-Preis-Spirale. In den Tarifverhandlungen ist es hierzulande nie so, dass das, was Gewerkschaften als Forderungen aufstellen, dann auch die Ergebnisse wären. Eine Lohn-Preis-Spirale fängt nach unserer Wahrnehmung erst an, wenn im Trend die Löhne stärker steigen als der Produktivitätszuwachs plus die Ziel-Inflation der Europäischen Zentralbank.

Einige Medien schüren die Angst vor ­einem starken Preisschub, davor dass Geld immer weniger Wert wird. Inwieweit treibt Angst die Inflation hoch?

Diese Medien sind nicht besonders konstruktiv in dieser Debatte. Letztes Jahr, als die Preise gefallen sind und die Inflation unter Null lag, hat das irgendwie keiner wahrgenommen. Jetzt, wo die Preise steigen, und das muss man gerade wegen der Mehrwertsteuersenkung im Zusammenhang sehen, da wird eine große Panik geschoben. Da wäre eine ein bisschen sachlichere Betrachtung der Frage sinnvoll.

Wie sieht die Entwicklung im europäischen Vergleich aus?

In der Eurozone insgesamt ist die Inflationsrate niedriger als in Deutschland. Das muss man sich auch klar machen, wenn man über Inflation redet. Die Euro­päische Zentralbank hat die Aufgabe, ­eine Geldpolitik für die Eurozone insgesamt zu machen und die Inflation in der Eurozone insgesamt bei zwei Prozent zu stabilisieren. Wenn man zu den Nachbarn guckt, sieht es in vielen Ländern noch viel entspannter aus als in Deutschland – weil die eben auch nicht die Art der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung hatten, die jetzt die Inflation hierzulande nach oben treibt.

Haushalte mit niedrigeren Einkommen sind stärker durch die derzeitige Preisentwicklung betroffen. Müsste man da mit einer besonderen Form der Entlastung gegensteuern?

Ich glaube, wir haben grundsätzlich das Problem, dass ärmere Haushalte bei uns ein schwierigeres Leben haben. Da muss man gucken, wie man die Einkommen der ärmeren Haushalte erhöht. Aber das würde ich nicht in einen Zusammenhang mit der Inflationsrate setzen. Das ist eine Sache, die wir ohnehin machen müssen, das hat mit der Inflation recht wenig zu tun.

Interview: Heike Langenberg