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Die Teilnehmer*innen der Delegation von links: Moritz Tremmel, Ronja Schäfer, Lea Herzig, Dirk Euhus, Kai Reinartz, Nicole Witek und Severin ReiterFoto: Rike Müller

Kai Reinartz ist ehrenamtlicher Vorsitzender der ver.di Jugend und seit zehn Jahren ver.di-Mitglied. Hauptberuflich arbeitet er bei der Deutschen Rentenversicherung in Düsseldorf. Anfang Oktober hat er eine ver.di-Jugend-Gedenkfahrt zur Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück mitorganisiert. Dort befand sich von 1939 bis 1945 das einzige Frauen-Konzentrationslager der Nationalsozialisten.

"In meiner Schulzeit lag der Fokus zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus stärker auf der Auseinandersetzung mit den Tätern und darüber aufzuklären, wie es so weit gekommen ist. Ich finde es aber auch wichtig, den Opfern zu gedenken und ihnen eine Stimme zu geben. Daher habe ich vor zwei Jahren erstmals an einem Seminar der DGB-Jugend zur Erinnerungsarbeit teilgenommen und besuchte damals das Konzentrationslager Birkenau. Ich habe mich intensiv damit beschäftigt, was in meiner Heimatstadt Viersen passiert ist und wer die Nachbarn waren, die verfolgt und deportiert wurden. Ich habe in dem Seminar außerdem gelernt, die Biografien von Opfern und Verfolgten zu recherchieren und herauszufinden, wie die Spur der Verfolgten verlaufen ist. Dazu beschäftigte ich mich mit einem alten Kaufhaus und der jüdischen Familie, die in meiner Heimatstadt verfolgt und ermordet wurde.

Im Frauenlager

In dem Seminar haben wir auch gelernt, wie wir selbst eine Delegation vorbereiten. Mit diesem Wissen haben wir als ver.di-Bundesjugendvorstand entschieden, selbst eine Gedenkfahrt zu planen. Die Wahl fiel auf Ravensbrück. Die Besonderheit an Ravensbrück ist, dass es als einziges Frauen-Konzentrationslager 1939 von der SS hochgezogen worden war. Im April 1941 wurde zusätzlich noch ein Männerlager angegliedert, das aber ebenfalls der Leitung des Frauenlagers unterstand. 1942 kam in unmittelbarer Nachbarschaft das sogenannte Jugendschutzlager Uckermark für junge Frauen und Mädchen hinzu. Bis 1945 wurde das Frauen-Konzentrationslager ständig erweitert.

Innerhalb der Lagermauer gab es Produktionsstätten, in denen die Frauen arbeiten mussten – schneidern, weben und flechten. Zusätzlich errichtete die Firma Siemens & Halske neben dem Gelände 20 Werkhallen, in denen Häftlinge ab dem Spätsommer 1942 Zwangsarbeit leisten mussten. Von 1939 bis 1945 sind rund 120.000 Frauen und Kinder, 20.000 Männer und 1.200 weibliche Jugendliche als Häftlinge in Ravensbrück registriert worden. Die dorthin Deportierten stammten aus über 30 Nationen, unter ihnen Jüdinnen und Juden sowie Sinti und Roma und viele politisch Verfolgte. Nur wenige überlebten, viele starben auch noch nach Kriegsende an den Folgen der Haft.

Mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Gedenkfahrt haben wir bei einem Vorbereitungswochenende die Geschichte aufgearbeitet, Biografien angesehen und auch über den eigenen Betrieb oder die eigene Hochschule recherchiert, ob und wie sie sich mit der Vergangenheit auseinandergesetzt haben. Bestürzend finde ich, dass es von Siemens bis heute keine echte Wiedergutmachung gibt. Umso wichtiger ist es mir, dass man immer wieder hinschaut und nicht wegsieht, auch was Antisemitismus heute anbetrifft.

In Ravensbrück haben wir in einer Jugendherberge übernachtet, die nach dem Mauerfall auf dem Gelände untergebracht wurde, wo früher die Unterkünfte der Aufseherinnen waren. Von den alten Gebäuden sind nur noch die Außenhüllen da. Wir haben uns einen Dokumentarfilm angesehen, bei dem aus drei Perspektiven über eine Aufseherin berichtet wurde. Wir waren im Museum und haben eine Führung über das Gelände bekommen. Auf dem Siemensgelände haben wir am letzten Tag bei einer Gedenkzeremonie Blumen abgelegt und Biografien, Gedichte und Lieder vorgelesen.

Ich finde es wichtig, dass auch unsere Generation sich daran erinnert, was passiert ist und nicht die Augen davor verschließt, so wie die Menschen das früher taten. In Ravensbrück gibt es einen großen See, auf der einen Seite liegt das Konzentrationslager, auf der anderen Seite in vielleicht zwei Kilometern Entfernung die kleine Stadt Fürstenberg an der Havel. Die Menschen konnten von dort hinsehen. Auch die Todesmärsche müssen sie mitbekommen haben. Jetzt gibt es im See das Mahnmal ,Tragende': Eine Frau trägt eine andere, sie guckt nach Fürstenberg und sagt uns allen, wir müssen hinsehen."

Protokoll: Marion Lühring